Sturm ueber roten Wassern
schlimme Seite an der Reihe ist, hilfst du mir. Bring mich nur von diesem Schiff runter, und ich beginne sofort mit den Übungen.«
»Damit kannst du gar nicht schnell genug anfangen«, meinte Jean, und nach kurzem Zögern bückte er sich nach der Tunika.
2
Während der nächsten paar Tage, nachdem sie die feuchte, stinkende, schwankende Welt der Galeone verlassen hatten, übte Jean Nachsicht mit Locke. Er war einfach zu erleichtert, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, um gereizt auf die Lethargie seines Freundes zu reagieren. Selbst für zahlende Passagiere glich eine Seereise eher einem Gefängnisaufenthalt als einem Urlaub.
Mit ihrer Handvoll Silbervolani (die sie beim Ersten Maat der Golden Gain zu einem unverschämt hohen Kurs gegen ihre mitgeführten Camorri-Solons eingetauscht hatten - doch der Mann behauptete, bei ihm seien sie immer noch besser dran, als wenn sie sich von den numismatischen Wegelagerern, sprich den offiziellen Geldwechslern der Stadt, ausrauben ließen) mieteten sie sich ein Zimmer in der dritten Etage der Silbernen Laterne, einem baufälligen alten Gasthof im Hafengebiet.
Jean machte sich sofort auf die Suche nach einer Einkommensquelle. Wenn Camorrs Unterwelt ein tiefer See gewesen war, so glich die von Vel Virazzo einem Tümpel mit stehendem Wasser. Im Handumdrehen kannte er die führenden Gangs, die den Hafenbezirk kontrollierten, und wusste, in welcher Beziehung sie zueinander standen. In Vel Virazzo gab es so gut wie gar keine durchorganisierte Kriminalität, und keinen Oberboss, der die Fäden in der Hand hielt. Er brauchte nur ein paar Nächte lang in den richtigen Kaschemmen zu saufen, um ganz genau zu wissen, an wen er sich wenden musste.
Sie nannten sich die Messing-Kerle, und sie lungerten in einer verlassenen Gerberei herum, die im Ostteil des Hafens lag, wo die Wellen klatschend gegen eine Reihe verrottender Piers anliefen, die seit zwanzig Jahren nicht mehr für legale Zwecke benutzt worden waren. Des Nachts entwickelten die Messing-Kerle rege Aktivitäten als Einbrecher, Räuber und Taschendiebe. Den Tag verbrachten sie mit Schlafen, Würfelspielen und dem Versaufen des größten Teils ihrer Beute. An einem klaren, sonnigen Nachmittag – es war gerade zwei Uhr – trat Jean die Tür zu ihrem Schlupfwinkel ein, obwohl sie nur lose in den Angeln hing und nicht einmal abgeschlossen war.
Ein rundes Dutzend Mitglieder der Gang hatte sich in der alten Gerberei verschanzt, junge Männer, schätzungsweise zwischen fünfzehn und zwanzig Jahre alt. In dieser Gang, die einen örtlich eng begrenzen Kreis unsicher machte, konnte jeder Mitglied werden. Die Burschen, die nicht wach waren, wurden von ihren Kumpels durch Schläge geweckt, als Jean gelassen in die Halle hineinschlenderte.
»Guten Tag!« Er deutete eine Verbeugung an, indem er den Kopf neigte, dann breitete er die Arme aus. »Wer ist hier der größte, gemeinste Dreckskerl? Wer von euch Messing-Kerlen ist der brutalste Schläger?«
Nach ein paar Sekunden Schweigen und einigen verdutzten Blicken sprang ein untersetzter Kerl mit krummer Nase und kahl rasiertem Schädel von einem geländerlosen Treppenaufgang herunter und landete auf dem dreckigen Boden der Halle. Der Junge stelzte zu Jean hin und grinste ihn höhnisch an.
»Er steht vor dir!«
Jean nickte, lächelte und knallte dem Burschen seine beiden Pranken gegen die Ohren.
Der Junge taumelte, doch Jean hielt seinen Kopf fest, riss ihn nach unten und rammte ihm ein paarmal das Knie ins Gesicht. Nachdem der Kerl das letzte Mal Bekanntschaft mit Jeans Kniescheibe gemacht hatte, ließ Jean ihn los, und der hartgesottenste Raufbold der Messing-Kerle streckte alle viere von sich; reglos blieb er auf dem Rücken liegen, während ihm das Blut aus Mund und Nase floss.
»Falsch!«, verkündete Jean, der nach dieser Demonstration nicht einmal schwer atmete.
»Ich bin hier der größte und gemeinste Dreckskerl! Ich bin der brutalste Schläger der Messing-Kerle!«
»Du bist keiner von uns, du Arschloch!«, brüllte ein junger Bursche, auf dessen Gesicht sich jedoch eine Mischung aus Respekt und Angst abzeichnete.
»Los, Freunde, wir machen dieses dreckige Stück Scheiße kalt!«
Ein anderer Junge, der eine zerfetzte, viereckige Kappe und mehrere selbstgemachte Halsketten aus aufgefädelten kleinen Knochen trug, stürzte sich mit erhobenem Stilett auf Jean. Als er zustieß, wich Jean rasch zur Seite aus, packte den Burschen beim Handgelenk,
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