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Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Lynch
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nicht daran hindern. Wir haben nicht viele Möglichkeiten, was bleibt uns also anderes übrig, als uns mit der Situation abzufinden? Ich habe nicht die Absicht, wegen diesen Drecksäcken vor meinem eigenen Schatten zu erschrecken! Wir machen weiter wie bisher! Du und ich – gemeinsam!«
    Die meisten Händler des Nachtmarktes hatten gemerkt, mit welcher Intensität Locke und Jean sich unterhielten, und davon abgesehen, ihre Waren feilzubieten. Doch einer der letzten Verkäufer am Nordrand des Marktes war entweder weniger sensibel oder so verzweifelt, seine Waren an den Mann zu bringen, dass er sie ansprach:  »Hübsche Schnitzereien gefällig, die Herren? Suchen Sie ein Geschenk für eine Frau oder ein Kind? Etwas Aufwändiges aus der Hochburg des Kunsthandwerks?« Auf einer umgekippten Kiste hatte der Mann Dutzende von exotischen kleinen Spielsachen ausgestellt. Sein langer, zerlumpter brauner Mantel war innen mit gepolsterten Flecken in allen möglichen grellen Farben gefüttert – orange, lila, silbern und senfgelb. Von seiner linken Hand baumelte an vier Fäden die buntbemalte Holzfigur eines speertragenden Soldaten, und mit kleinen Bewegungen seiner Finger ließ er die Puppe auf einen imaginären Feind einstechen. »Eine Marionette? Ein Mitbringsel zur Erinnerung an Tal Verrar?«
    Jean starrte ihn mehrere Sekunden lang an, bevor er antwortete: »Tut mir leid, aber wenn ich ein Souvenir aus Tal Verrar möchte, dann wäre eine Marionette das Letzte, was ich kaufen würde.«
    Locke und Jean sprachen mit keiner Silbe mehr über diesen Vorfall. Beklommen und mit heftig schmerzendem Kopf folgte Locke seinem stabil gebauten Freund aus der Großen Galerie in die Savrola, bestrebt, sich hinter hohen Mauern und verriegelten Türen zu verschanzen, so wenig Schutz diese Vorkehrungen auch bieten mochten.
     

R ückblick
    Der Capa von Vel Virazzo
1
     
     
    Vor fast zwei Jahren war Locke Lamora in Vel Virazzo eingetroffen; damals wollte er am liebsten sterben, und Jean Tannen war geneigt, ihn gewähren zu lassen. Vel Virazzo ist ein Tiefwasserhafen ungefähr einhundert Meilen südöstlich von Tal Verrar; er liegt geschützt inmitten der hohen Felsenklippen, welche die Festlandküste des Messing-Meers dominieren. Die Stadt beherbergt acht- bis neuntausend Seelen und zahlt seit Langem widerwillig und mürrisch Steuern an die Verrari; regiert wird sie von einem Gouverneur, den der Archont persönlich einsetzt.
    Direkt vor der Küste ragt eine Reihe von schmalen Elderglastürmen zweihundert Fuß hoch aus dem Wasser, ein weiteres rätselhaftes Vermächtnis der Eidren in einer Gegend, die angefüllt ist mit diesen verlassenen Wunderwerken, deren Funktion niemand zu ergründen vermag. Auf den Spitzen dieser Glaspylone sitzen große Plattformen, die nun als Leuchttürme benutzt und von verurteilten Kleinkriminellen bemannt werden. Mit Booten transportiert man sie zu den Pylonen und lässt sie an Strickleitern hinaufklettern. Oben angekommen, hieven sie ihre Vorräte hoch und richten sich für ein paar Wochen in diesem luftigen Exil ein; ihre Aufgabe ist es, die roten alchemischen Lampen von der Größe einer kleinen Hütte zu warten und in Gang zu halten. Wenn man diese Männer dann wieder abholt, ist manch einer von ihnen verrückt geworden, und lange nicht jeder überlebt diese körperliche und seelische Tortur.
    Zwei Jahre vor jenem verhängnisvollen Schwips-Vabanque im Sündenturm von Tal Verrar rauschte eine wuchtige Galeone im roten Schein dieser Küstenlaternen auf Vel Virazzo zu. Die Toppgasten, die auf den Rahnocken der Galeone herumturnten, winkten den einsamen Gestalten auf den Pylonen halb mitleidig, halb im Scherz zu.
    Am westlichen Horizont hatten dicke Wolkenbänke die Sonne verschluckt, und ein sanftes, erlöschendes Licht ergoss sich über das Wasser, während im tiefdunklen Osten bereits die ersten Sterne blinzelten.
    Es wehte eine feuchtwarme, ablandige Brise, und aus den grauen Felsen, die beidseitig die alte Hafenstadt einrahmten, schienen dünne Nebelschleier zu entweichen. Die gelb gefärbten Marssegel der Galeone waren dicht gerefft, als das Schiff sich darauf vorbereitete, eine halbe Meile vor der Küste beizudrehen. Ein kleines Skiff der Hafenmeisterei flitzte hinaus, der Galeone entgegen; die grünen und weißen Laternen am Bug wippten im Rhythmus der acht kräftig pullenden Rudergasten.
    »Welches Schiff?« Die Hafenmeisterin stellte sich in den Bug neben die Laternen und rief das fremde Schiff aus

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