Sturm ueber roten Wassern
bekommen, nicht wahr?«
»Sie sind ausgehungert«, bestätigte Ydrena.
»Gut.« Rodanov prüfte noch einmal die Abschnitte der Steuerbordreling, die der Zimmermann mit Schwachstellen versehen hatte, damit sie nach einem kräftigen Stoß auf einer Länge von zehn Fuß abbrachen. Dadurch war zwar seine geliebte Tyrann beschädigt, aber das konnte man später leicht wieder reparieren. »Stellt die Käfige hier ab. Und tretet kräftig gegen die Seiten, damit sie richtig wütend werden.«
6
Die beiden Schiffe flogen durch die Wellen aufeinander zu, und Locke Lamora sollte zum zweiten Mal in seinem Leben in eine Seeschlacht verwickelt werden.
»Recht so, Mum!«, brüllte Drakasha, die an der Backbordreling des Achterdecks stand und nach vorn starrte. Locke und Jean warteten in der Nähe, mit Enterbeilen und Säbeln bewaffnet. Jean trug außerdem ein Paar lederne Armschützer; er hatte sich erlaubt, sie aus Basryns Siebensachen zu klauben, nachdem der Mann als einziger über die Seite in das kleine Boot gestiegen und schon nach kurzer Zeit nicht mehr zu sehen gewesen war. Mein Boot, dachte Locke mit einem Anflug von Bitterkeit.
Als Verstärkung ihrer »fliegenden Eingreiftruppe« hatten sich Locke und Jean Malakasti, Jabril, Streva und Gwillem ausgesucht. Alle außer Gwillem trugen Schilde und Speere; der ängstlich dreinschauende Quartiermeister trug eine Lederschürze, die vollgestopft war mit schweren Bleikugeln für die Schleuder, die an seiner linken Hand baumelte.
Der größte Teil der Besatzung stand in der Formation, die Drakasha befohlen hatte, in der Kühl; die vorderste Reihe war mit großen Schilden und kurzen Schwertern ausgerüstet, dahinter kamen die Matrosen mit Stangenwaffen. Die Großsegel waren aufgegeit, Eimer mit Löschsand überall verteilt, und die Eingangspforte an Backbord wurde durch ein Klingennetz geschützt, das, wie Delmastro behauptete, etwaigen Enterern die Haut vom Leib fetzen würde; dermaßen gerüstet stürmte die Giftorchidee auf die Tyrann zu, als flöge sie nach langer Trennung in die Umarmung eines Geliebten.
Aus dem Gewühl am Mittschiff tauchte Delmastro auf. Mit ihrem Lederpanzer und dem für die Schlacht zurückgebundenen Haar sah sie fast so aus wie bei ihrer ersten Begegnung mit Locke und Jean. Ungeachtet der Waffen, die beide an ihren Gürteln trugen, sprang sie Jean an und schlang ihre Arme und Beine um ihn. Er verschränkte seine Hände hinter ihrem Rücken, und sie küssten sich, bis Locke anfing, laut zu kichern. Solch ein Bild sah man sicher nicht oft kurz vor einer Schlacht, dachte er bei sich.
»Wir werden siegen!«, verkündete sie, als sie sich voneinander lösten.
»Versuch nicht, die gesamte Mannschaft der Tyrann zu töten, ehe ich überhaupt zum Einsatz komme!« Jean grinste auf sie hinunter, und sie drückte ihm einen kleinen Seidenbeutel in die Hand.
»Was ist das?«
»Eine Locke von meinem Haar«, erklärte sie. »Ich wollte sie dir schon vor Tagen geben, aber bei all dem Plündern bin ich nicht dazu gekommen. Du weißt ja, wie das Leben eines Piraten ist. Furchtbar hektisch.«
»Danke, mein Liebstes.«
»Wenn du mal in Schwierigkeiten gerätst, kannst du diesen kleinen Beutel hochhalten und dem, der dich bedrängt, sagen: ›Du hast ja keine Ahnung, mit wem du dich anlegst. Ich stehe unter dem Schutz der Dame, die mir das hier als Beweis ihrer Liebe schenkten<.«
»Und du glaubst, das hätte eine abschreckende Wirkung?«
»Scheiße, natürlich nicht! Es stiftet nur Verwirrung. Wenn er dich dann blöde anglotzt, kannst du ihn in aller Ruhe fertigmachen.«
Sie umarmten sich noch einmal, und Drakasha räusperte sich laut.
»Del, ich störe nur ungern, aber wir wollen das Schiff, das direkt vor uns ist, gleich angreifen. Wärst du vielleicht so freundlich …«
»Ja, richtig, wir werden um unser Leben kämpfen. Ein paar Minuten kann ich sicher für Sie erübrigen, Käpt’n.« »Viel Glück, Del.« »Viel Glück, Zamira.«
»Käpt’n«, meldete sich Mumchance, »jetzt …«
»Nasreen!«, brüllte Drakasha in einer Lautstärke, die selbst für ihr stimmgewaltiges Organ ungewöhnlich war. »Lass fallen Steuerbordanker!«
»Vorbereiten auf Zusammenstoß!«, schrie Delmastro einen Augenblick später. »Alle Mann festhalten! Wahrschau in der Takelage! Greift euch einen Mast! Greift euch ein Tau!«
Jemand fing an, wie wahnsinnig die Schiffsglocke am Fockmast zu läuten. Die beiden Schiffe näherten sich mit rasender Geschwindigkeit an.
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