Sturm ueber roten Wassern
nicht. Ich warte nur darauf, dass mein Freund diese kandierten Wespen verputzt.«
»Libellen.« Jean steckte sich die letzte in den Mund, schluckte sie beinahe an einem Stück runter und verstaute das Buch in seinem Rock. »Geben Sie mir die Rechnung, und ich begleiche sie bei Ihnen.«
»Nun«, hob Locke an, während Jean Kupfermünzen aus seiner Börse abzählte, »für den Rest des Abends sind wir ohne Verpflichtungen. Höchstwahrscheinlich lässt Requin uns jetzt schon beschatten. Ich denke, ein, zwei Nächte voller Müßiggang wären angebracht, um ihn in Sicherheit zu wiegen.«
»Großartig«, pflichtete Jean ihm bei. »Wir könnten ein bisschen durch die Gegend bummeln und vielleicht mit dem Boot zu den Smaragd-Galerien fahren. Dort gibt es jede Menge Cafés und Musik. Würde es zu Leo und Jerome passen, sich einen Schwips anzutrinken und mit blutjungen Tavernentänzerinnen anzubandeln?«
»Von mir aus kann Jerome saufen und flirten, bis die Sonne aufgeht und wir in unsere Betten müssen. Leo wird nur dasitzen und das fröhliche Treiben beobachten.«
»Hast du vor, mit Requins Leuten Verstecken zu spielen?«
»Warum nicht? Verflixt, ich wünschte, Bug wäre bei uns, um auf ein paar Dächer zu klettern und Ausschau zu halten. Ein Paar scharfe Augen kämen uns jetzt gut zupass; in dieser verfluchten Stadt können wir keinem trauen.«
»Ich wünsche mir nur, dass Bug noch leben würde. Ausrufezeichen«, seufzte Jean.
Sie schlenderten zum Foyer des Clubs, sprachen in ruhigem Ton über imaginäre Geschäfte zwischen Meister Kosta und Meister de Ferra und improvisierten eine Diskussion, für den Fall, dass jemand sie belauschte. Kurz nach Mitternacht betraten sie die von hohen Mauern umfriedete Savrola und tauchten ein in den vertrauten Hort der Sicherheit und Stille. Hier herrschten penible Sauberkeit und rigorose Ordnung - keine verlotterten Häuserfassaden, keine Blutlachen in schummrigen Gassen, keine Pisse im Rinnstein. Die mit grauen Ziegeln gepflasterten Straßen wurden von silbernen Laternen, die in eisernen Rahmen hingen, gut beleuchtet; der gesamte Distrikt schien wie mit gleißendem Mondlicht übergossen, obwohl der Himmel in dieser Nacht von hohen, dunklen Wolken bedeckt war.
Die Frau erwartete sie in den Schatten, die zu Lockes Linken die Nischen füllten.
Sie hielt mit ihm Schritt, während er und Jean die Straße hinuntermarschierten. Eines von den Stiletten, die Locke in den Ärmeln versteckt hatte, rutschte in seine Hand, ehe er den Reflex unterdrücken konnte. Die Frau war jung, klein und schlank; das schwarze Haar hatte sie zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug einen halbwegs modernen schwarzen Mantel und einen viereckigen Hut mit einem langen grauen Seidenschal, der beim Gehen hinter ihr her flatterte wie ein Schiffswimpel.
»Leocanto Kosta«, begann sie mit angenehmer, ruhiger Stimme, »ich weiß, dass Sie und Ihr Freund bewaffnet sind. Machen Sie keine Schwierigkeiten.« »Wie bitte, Madam?«
»Die kleinste Bewegung mit der Klinge, die Sie in Ihrer Hand halten, und in Ihrem Hals steckt ein Pfeil. Sagen Sie Ihrem Freund, er braucht seine Äxte gar nicht erst zu zücken. Lassen Sie uns einfach nur weitergehen.«
Jean begann, die linke Hand unter seinen Rock zu schieben; Locke packte ihn mit der Rechten, hielt seine Hand fest und schüttelte den Kopf. Sie waren nicht allein auf der Straße; Fußgänger eilten hin und her, um Geschäften oder Vergnügungen nachzugehen, doch einige gafften ihn und Jean an. Mehrere Leute in Mänteln, die für diese Jahreszeit viel zu schwer waren, standen reglos in dunklen Winkeln oder schattigen Durchlässen.
»Scheiße«, murmelte Jean. »Schau mal nach oben.«
Locke hob den Kopf und ließ den Blick flüchtig über die andere Straßenseite schweifen; auf den Dächern der drei- und vierstöckigen Häuser entdeckte er die Silhouetten von mindestens zwei Männern, die sich auf gleicher Höhe mit ihnen fortbewegten. In den Händen trugen sie schmale, gebogene Geräte. Langbögen. »Wie es aussieht, haben Sie uns in der Hand, Madam«, sagte Locke, ließ das Stilett in eine Rocktasche gleiten und zeigte der Frau seine leere Hand. »Welchem Umstand verdanken wir die Ehre Ihrer Aufmerksamkeit?« »Jemand will mit Ihnen sprechen.«
»Offenbar wusste dieser Jemand, wo er uns finden kann. Warum hat er sich nicht einfach beim Abendessen zu uns gesetzt?«
»Wichtige Gespräche sollte man nicht in der Öffentlichkeit führen, finden Sie nicht
Weitere Kostenlose Bücher