Sturm ueber roten Wassern
ausgeliefert. Mit Haut und Haaren. Du bist schon so gut wie tot, sozusagen eine wandelnde Leiche.« »Wunderbar! Und wie hat er reagiert?«
»Zurückhaltend, mit der gebotenen Vorsicht. Ideal, würde ich sagen. Wäre er zu enthusiastisch gewesen, hätte mich das stutzig gemacht. Und hätte er überhaupt nicht angebissen, nun ja …« Locke führte eine Pantomime auf, als würde er sich ein Messer in die Brust bohren und die Klinge mehrere Male herumdrehen. »Ist das geräucherter Aal?«
»Bedien dich. Die Füllung besteht aus Aprikosen und weichen gelben Zwiebeln. Nicht ganz mein Geschmack.«
Locke nahm Jeans Gabel und spießte ein paar Happen des Aals auf; die Füllung schmeckte sogar recht gut. »Es scheint, als würden wir zwei Drittel unseres Guthabens verlieren«, erklärte er, nachdem er eine Weile geschmaust hatte. »Diese Strafgebühr wegen Mogelns brummt Requin mir auf, damit ich nicht vergesse, dass seine Toleranz begrenzt ist.«
»Tja, wir hatten ja von Anfang an einkalkuliert, dieses Geld in der Stadt zu lassen, wenn wir von hier verschwinden. Wäre aber nicht schlecht gewesen, es wenigstens noch ein paar Wochen lang zu behalten.«
»Genau. Aber die Alternative wäre ein chirurgischer Eingriff auf dem Schreibtisch gewesen, auch wenn eine Amputation meiner Hand nicht zwingend notwendig war.
Was liest du?«
Jean zeigte ihm den Titel, und Locke tat so, als müsse er sich übergeben. »Warum immer Lucarno? Egal, wohin wir gehen, du schleppst seine verdammten Romane mit.
Von diesem Schund kriegst du noch Gehirnerweichung. Zum Schluss taugst du nur noch dazu, Blumen zu züchten, und bist für einen richtigen Coup gar nicht mehr geeignet.«
»Nun ja, Meister Kosta«, erwiderte Jean, »ich werde ganz sicher deine Auswahl an Lektüre kritisieren, sollte ich dich jemals beim Lesen eines Buches erwischen.«
»Ich lese viel!«
»Das muss mir glatt entgangen sein. Und wenn, dann nur Werke über Geschichte und Biografien, meistens die Pflichtlektüre, zu der Chains uns verdonnert hatte.«
»Was ist an dieser Art Lesestoff auszusetzen?«
»Bezüglich Geschichte kann ich nur sagen, wir leben in ihren Ruinen. Und was die Biografien angeht, so leben wir mit den Konsequenzen der Entscheidungen, die die Leute, von denen diese Bücher handeln, getroffen haben. Solche Texte lese ich nicht zu meinem Vergnügen. Es ist beinahe so, als würde man sorgfältig eine Landkarte studieren, nachdem man seinen Bestimmungsort bereits erreicht hat.«
»Aber Romane sind reine Dichtung, ohne jeden Realitätsbezug. Wo bleibt da die Spannung?«
»Eine interessante Wortwahl. ›Reine Dichtung, ohne jeden Realitätsbezug.‹ Könnte es für Leute unseres Schlages eine passendere Lektüre geben? Was hast du gegen frei erfundene Geschichten, die mit der Wahrheit nichts zu tun haben, wenn wir uns damit doch unseren Lebensunterhalt verdienen?«
»Ich existiere in der realen Welt«, entgegnete Locke, »und meine Methoden sind die einer realen Welt. Wie du schon sagst, garantieren sie mir mein Auskommen. Auf die praktische Anwendbarkeit kommt es an, für romantische Anwandlungen ist da kein Platz.«
Jean legte das Buch vor sich auf den Tisch und klopfte mit der Hand leicht auf den Deckel. »Aber hier werden wir beide einmal landen, Dorn von Camorr – zumindest du.
Suche uns in einem Geschichtswerk, und du findest unsere Namen höchstens in einer Randbemerkung. Suche uns in Legenden, und wir werden als Helden gefeiert.«
»Wenn man uns der Erwähnung für wert befindet, wird man maßlos übertreiben, meinst du wohl. Entweder werden wir auf ein Podest gestellt oder in den Boden gestampft. Auf jeden Fall wird das Buch vor Lügen nur so strotzen. Die Wahrheit über alles, was wir tun, stirbt mit uns, und kein Mensch wird sie je erfahren.«
»Das ist immer noch besser, als dem Vergessen anheimzufallen! Wenn ich mich recht entsinne, hattest du mal einen Sinn fürs Theatralische. Du warst ein erstklassiger Schauspieler – vor allen Dingen in einem Melodram.«
»Ganz recht.« Locke faltete die Hände auf der Tischplatte und senkte noch mehr die Stimme. »Und du weißt ja, wozu das geführt hat.«
»Verzeih mir«, erwiderte Jean mit einem Seufzer. »Es tut mir aufrichtig leid, dass ich dieses spezielle rothaarige Problem wieder aufs Tapet gebracht habe.«
Ein Kellner erschien im Eingang des kleinen Séparées und sah Locke fragend an.
»Nein, danke«, sagte Locke und legte Jeans Gabel auf den Teller mit dem Aal zurück.
»Ich esse
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