Sturm ueber roten Wassern
schob sie wieder zu einem ordentlichen Päckchen zusammen. »Ich wette, ich war sogar besser als Calo und Galdo. Verflucht, meine Hand tut weh.«
»Tja, ich weiß, dass ich dich angetrieben habe, Übungen zu machen«, beschied ihm Jean, »aber du warst schon ein bisschen aus dem Training, bevor du verletzt wurdest.
Du musst Geduld haben.«
Im heftigen Regen fädelte sich die schwarze Luxuskutsche schwankend und hüpfend auf der alten Theriner Thron-Straße durch die Vorberge, die sich östlich der Küste von Tal Verrar erstrecken. Auf dem offenen Kutschbock über dem Wagenkasten hockte vornübergebeugt eine Frau mittleren Alters und lenkte das Sechsergespann; die Kapuze ihres Capes aus Ölzeug hatte sie weit nach vorn gezogen, um ihre qualmende Pfeife zu schützen. Zwei Lakaien kauerten elend auf dem hinteren Trittbrett, gesichert durch breite, um die Taille geschlungene Lederriemen, die sie davor bewahrten herunterzufallen.
Jean brütete über einem Bündel Notizen, blätterte Pergamentseiten hin und her und brummelte gelegentlich etwas in seinen Bart. Der Regen prasselte schwer gegen die rechte Seite der geschlossenen Kabine, doch das linke Fenster konnten sie offen halten; die Netzbespannung und die ledernen Klappen waren zurückgezogen, um die schwülwarme Luft, die streng nach gedüngten Feldern und Salzmarschen roch, hereinzulassen. Eine kleine gelbe, alchemische Kugel, die neben Jean auf der gepolsterten Sitzbank lag, spendete ausreichend Licht zum Lesen.
Vor zwei Wochen hatten sie Vel Virazzo verlassen und gut hundert Meilen in nordwestlicher Richtung zurückgelegt; sie brauchten sich längst nicht mehr mit matschigem Apfelmus zu beschmieren, um sich frei bewegen zu können.
»Diese Blätter enthalten diverse Informationen, die ich aus den unterschiedlichsten Quellen bezogen habe«, begann Jean, als Locke die Spielkarten wieder zusammengeklaubt hatte. »Requin dürfte um die vierzig Jahre alt sein. Er ist gebürtiger Verrari, aber er kann ein bisschen Vadran und spricht angeblich fließend Thron-Therin. Mit Vorliebe betätigt er sich als Kunstsammler, wobei er verrückt ist nach Malern und Bildhauern aus den letzten Jahren des Kaiserreichs. Kein Mensch weiß, was er vor zwei Jahrzehnten getrieben hat. Offenbar gewann er aufgrund einer Wette den Sündenturm und warf den Vorbesitzer aus dem Fenster.« »Und er versteht sich gut mit den Priori?« »Jedenfalls mit den meisten von ihnen, heißt es.«
»Hat man eine ungefähre Ahnung, wie hoch die Summe ist, die er in seinem Tresor hortet?«
»Laut vorsichtigen Schätzungen reicht sie auf jeden Fall aus, um sämtliche Schulden zu begleichen, für die das Haus eventuell einmal aufkommen müsste. In dieser Hinsicht darf er sich niemals eine Blöße geben – also müsste er mindestens fünfzigtausend Solari sein Eigen nennen. Hinzu kommt sein privates Kapital, und zusätzlich die Wertobjekte und Vermögen vieler Leute. Er zahlt zwar keine so hohen Zinsen wie eine der erstklassigen Banken, aber er führt auch keine Bücher für die Steuereintreiber. Es wird gemunkelt, er hätte ein einziges Kontobuch, das er in einem Versteck aufbewahrt, das außer ihm nur noch die Götter kennen. Und alle Einträge darin macht er von eigener Hand. Das meiste von alledem gründet sich natürlich auf Hörensagen.« »Diese fünfzigtausend Solari dienen nur dazu, den operativen Fonds des Kasinos zu decken, nicht wahr? Wie hoch schätzt du den Wert des Gesamtinhalts seines Tresors?« »Das ist wie aus dem Kaffeesatz lesen, nur dass man noch nicht mal den Kaffeesatz hat, aber der Betrag dürfte bei … dreihunderttausend, dreihundertfünfzigtausend Solari liegen.« »Klingt plausibel.«
»Ja, sicher. Die Einzelheiten über den Tresor selbst sind da schon wesentlich handfester. Anscheinend sorgt Requin selbst dafür, dass hier und da Details durchsickern. Er glaubt, das würde Diebe abschrecken.« »Das glauben sie doch alle, oder?«
»In diesem speziellen Fall könnte er sogar recht behalten. Pass auf: Der Sündenturm ist ungefähr fünfzig Yards hoch, ein Zylinder aus dickwandigem Elderglas. Du weißt, was ich meine – vor circa zwei Monaten hast du versucht, von so einem Turm in die Tiefe zu springen. Der Zylinder reicht rund weitere hundert Fuß in einen Glashügel hinein. Eine Tür befindet sich auf Straßenniveau, und ein einziger Durchlass führt in den Tresor hinein, der unter dem Turm liegt. Merk dir das. Keine Geheimgänge, keine Seitenpforten. Der Boden besteht aus
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