Sturm über Sylt
»Wo ist Insa geblieben?«
Aletta fuhr herum. »Sie hat zugehört? Im Garten?«
Jorit nickte. »Aber anscheinend sollten wir es nicht bemerken.« Er starrte auf den Punkt, an dem er Insa gesehen hatte, dann sagte er: »Sie ist verändert. Der Angriff von Kalkhoff macht ihr wohl immer noch zu schaffen?«
Aletta nickte. »Sie hat Angst, dass er es noch einmal versucht.«
Jorit drehte sich zu ihr um, und in seinen Augen stand die Frage, die er gestellt hätte, wenn sie allein gewesen wären. Aletta hätte sie ihm nicht beantworten können. Warum Hauptmann Kalkhoff glaubte, Macht über Insa zu besitzen, wusste sie ebenso wenig wie Jorit.
Reik sah zwischen ihnen hin und her. Die Sprache ihrer Augen konnte er nicht verstehen. Anscheinend kannte er auch Hauptmann Kalkhoff nicht näher und wusste nicht, was er getan hatte, Insa und Aletta sprachen nicht darüber – wenn sie auch aus unterschiedlichen Gründen schwiegen –, Kalkhoff selbst redete natürlich auch nicht, und seine Kameraden und Vorgesetzten waren davon überzeugt worden, dass er keine bösen Absichten gehegt hatte. Insas Hilferufe waren daraufhin schnell in Vergessenheit geraten.
An diesem Abend fühlte Aletta sich wieder stark genug, um auf den Speicher hinaufzusteigen und nach weiteren heimlichen Aufzeichnungen ihrer Mutter zu suchen. Zwar wurde es bereits dämmrig, aber sie wollte es dennoch versuchen. Insa war in der Küche beschäftigt und hatte akzeptiert, dass Aletta sie mit der Hausarbeit allein ließ. Sie fühle sich nicht gut und wolle früh schlafen gehen, hatte sie erklärt und davon profitiert, dass Insa Verständnis für ihren Wunsch hatte, über Ludwigs Tod und die Fehlgeburt zu schweigen. Das Schweigen wurde immer mehr zu Insas Stärke, auf ihr Schweigen war Verlass.
Aletta verzichtete auf Schuhe und schlich auf ihren dicken Socken zu der Tür, hinter der die Treppe zum Speicher hinaufführte. Ein letztes Mal lauschte sie ins Haus, aber im Erdgeschoss war alles ruhig. Sie hörte ein leises Klirren in der Küche, Insas Schritte, das Scharren eines Stuhls, als Insa sich wieder setzte, um mit dem Ansetzen des Brotteigs weiterzumachen, den sie am nächsten Morgen, direkt nach dem Aufstehen, backen würde. Vorsichtig öffnete Aletta die Tür und wunderte sich, dass sie kein Geräusch verursachte. Bisher hatte sie immer besonders vorsichtig sein müssen, damit das leise Knarzen der Klinke nicht zu hören war.
Umso besser! Sie drückte die Tür vorsichtig hinter sich ins Schloss und schlich die ersten Stufen der Treppe hoch. Doch noch bevor ihre Augen über den Fußboden des Speichers wandernkonnten, stockte sie. Der Geruch hatte sich verändert! Da gab es nicht mehr nur den dumpfen Mief von Staub, nein, etwas Neues war hinzugekommen. Aber was? Aletta konnte es sich nicht erklären und war geneigt, an Einbildung zu glauben. Trotzdem blieb sie wachsam und nahm die nächste Stufe besonders vorsichtig und lautlos. Nun konnte sie den Fußboden des Speicherraums überblicken. Alles sah so aus, wie sie es in Erinnerung hatte. Und dennoch ... kaum stand sie auf der obersten Treppenstufe, kam ihr wieder ein Geruch entgegen, der sie beunruhigte. Und plötzlich wusste sie, was es war: frische Luft, der Duft des Meeres, des Gartens, die Ausdünstungen der Straße, der Geruch von Pferdeäpfeln. Geräusche von draußen drangen herein. Lauter als sonst! Und nun sah sie es: Das Dachfenster stand einen Spalt offen. Sie überlegte, ehe sie den nächsten Schritt machte. War Insa in der Zwischenzeit hier oben gewesen und auf die Idee gekommen zu lüften? Ja, so musste es sein! Alles ganz harmlos!
Dennoch blieb sie wachsam. Und dann, als sie den Deckel der Korbtruhe anhob, hielt sie mitten in der Bewegung inne. War da ein Geräusch? Sie lauschte so angestrengt, dass ihr Blut in den Ohren rauschte, dann öffnete sie den Deckel ganz und horchte erneut, ob das Knarren ein Echo hervorrief. Aber es war still, mucksmäuschenstill. Dennoch blieb das Gefühl, nicht allein zu sein. Und sie wusste, dass sie ihm nachgeben musste, wenn sie in Ruhe und mit der nötigen Aufmerksamkeit der Vergangenheit ihrer Mutter auf die Spur kommen wollte.
Sie ließ von der Truhe ab und wagte sich mit kleinen, zaghaften Schritten tiefer in den Speicherraum hinein. Der Rest des Tageslichts, das durch das Dachfenster hereinfiel, reichte nicht weit. Am Ende gab es einen alten Schrank, in dem Insa das Werkzeug ihres Vaters untergebracht hatte, dahinter war es stockfinster. Dort hatte Sönke
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