Sturm über Sylt
Aber wer der Stärkere war, wurde genauso deutlich. Das Wimmern war weiblich, das verächtliche Lachen männlich.
»Du hast recht, es könnte jemand vorbeikommen. Das wollen wir nicht. Ich muss auf meinen Ruf achten.«
Ein unerwartetes Stöhnen folgte, dann das Rumpeln von Metall, leises Klirren, ein winziger Aufschrei.
»Heute habe ich leider keine Zeit mehr. Aber bald! Richte dich darauf ein.«
Schritte ertönten, feste, derbe Schritte. Sie gingen nicht weit. Das Gartentor der Nachbarn kreischte auf, die Schritte verloren sich auf weichem Untergrund. Unter dem Dachfenster wiederholten sich die Geräusche: das Rumpeln von Metall und leises Klirren. Was in Unordnung geraten war, wurde wieder zurechtgerückt. Dann Schritte, die so leise waren, als ginge jemand aufZehenspitzen. Ein leichtes Schnauben von jemandem, der kein Taschentuch zur Hand hatte, dann das Schnappen einer Tür. Stille! Die Soldaten, die kurz drauf mit lauten und unverschämten Reden die Stephanstraße entlanggingen, glaubten vermutlich, sie seien die Einzigen, die sich noch nicht zur Nachtruhe begeben hatten.
Als Aletta erwachte, war ihr Körper verspannt, ihr Rücken schmerzte, ihre Waden verkrampften sich. Das Bedürfnis, die Beine anzuziehen, war so groß, dass ihr die Tränen kamen, als ihr klarwurde, dass es nicht möglich war. Sönke hatte ihre Füße an die Bettpfosten gebunden. Zwar war sie erleichtert, denn diese Fesselung war weniger quälend als die, für die Sönke sich zunächst entschieden hatte, aber jetzt erschien ihr die Lage ihres Körpers unerträglich. Vorsichtig hob sie die gefesselten Hände hoch, streckte die Arme über den Kopf, dann drehte sie den Oberkörper so weit wie möglich nach rechts und links, krümmte ihn und rutschte zum Fußende des Bettes, um die Knie anwinkeln zu können. Danach ging es ihr besser.
Sie öffnete die Augen, bleiches Morgenlicht fiel durch das Dachfenster. Es musste noch sehr früh sein. Kein Pferdegespann war zu hören, keine Stimmen drangen herauf. Sogar das Schreien der Möwen klang noch müde und schwach. Die Sehnsucht nach Ludwig brannte wie Feuer in ihr. Wüsste sie ihn am Leben, hätte sie darauf gewartet, dass er sie befreite. Auch wenn es wider alle Vernunft gewesen wäre! Dass er ihr nie wieder helfen würde, war in dieser Minute deutlicher als je zuvor. Und die Verzweiflung trieb ihr die Tränen in die Augen.
Sie wandte den Kopf und sah Sönke an, der neben ihr schlief. Sein Mund war leicht geöffnet, sein Atem kaum hörbar. Endlich konnte sie ihn genau betrachten, sein kindliches Gesicht, den dunklen Teint, die Schatten auf seinen Lidern, die kräftigen Augenbrauen und die kerzengerade Nase. Sönke hatte ein wohlproportioniertes Gesicht, das war es vermutlich, was ihn sohübsch machte. Augen, Nase, Mund – alles hatte den richtigen Abstand zueinander, die Symmetrie in seinen Zügen war perfekt. Und wenn er die Augen geschlossen hielt, war nichts von seiner schwachen Intelligenz zu erkennen.
Wie immer, wenn sich ihre Gedanken um Sönke drehten, fühlte sie ihn in ihren Armen, spürte wieder seine weiche Haut an ihrer Wange und sog seinen Geruch ein, diesen puderweichen Duft eines Neugeborenen, der sich mit einer hauchzarten Frische zu einer unwiderstehlichen Mischung verband. In ihrem süßlichen Wohlgeschmack so alt wie die Menschheit selbst! Hatte seine Mutter sich in diesen Tagen verraten? Die Frage, die vor dem Einschlafen in Aletta hochgeschossen war, hatte sie während der ganzen Nacht begleitet, das wusste sie jetzt. Sie war ihr in jeden Dämmerschlaf gefolgt, hatte sofort auf ihrer Brust gelastet, wenn sie aufgewacht war, und stand jetzt wieder neben ihr. Die andere Frau, von der Sönke gesprochen hatte! Seine Mutter, die ihn nicht aufziehen konnte? Die jetzt dabei half, sein Leben zu retten? Aletta dachte an Frauke Lützen, mit der Insa ein Geheimnis verband. Trug dieses Geheimnis den Name Sönke? Warum hatte Insa sich auf das Risiko eingelassen, einen Deserteur zu verstecken? Und wie hatte sie sich Hauptmann Kalkhoff zu ihrem Feind gemacht? Aletta hatte seine Stimme erkannt, von der sie wach geworden war, und war sicher, dass seine Aggression sich in der Nacht gegen Insa gerichtet hatte. Warum glaubte er, sie zwingen zu können? Ihre Schwester wurde ihr immer rätselhafter. Aber welche Fragen sie ihr auch stellen würde, Aletta war ohne Hoffnung, dass sie eine ehrliche Antwort erhalten würde.
Ihre Augen wanderten über Sönkes Gesicht hinweg zum Dachfenster, dessen
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