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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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weil jeder von ihnen ein Scherflein zu Aletta Lornsens Erfolg beigetragen hatte. Opfer wurden sie in Alettas Gedanken nicht mehr genannt.
    »Ihr habt die gleiche Nase«, flüsterte Jorit, als wäre ihm diese Feststellung nicht geheuer, »und eine ähnliche Ausstrahlung. Anscheinend hast du recht, er ist dein Halbbruder!« Er sah sie an und nickte, obwohl sie nicht geantwortet hatte. »Ja, ich verstehe, dass dir die Vermutung nicht ausreicht. Du willst Gewissheit.«
    In seinem Gesicht erschien das Lächeln, das sie schon vor Jahren verzaubert hatte, in seinen Augen lag die Liebe, an die sie damals fest geglaubt und die sie glücklich gemacht hatte, die ihr jetzt jedoch Angst einflößte. Aber sie wusste auch, dass sie Jorit diese Gefühle nicht verbieten durfte, weil sie, wenn sie erst beim Namen genannt worden waren, zwischen ihnen stehen und sie auseinanderdrängen würden. Doch sie genoss seine Fingerspitzen, wenn sie über ihre Wangen huschten, und seine flüchtigen Abschiedsküsse, die nur ein Hauch waren und doch stundenlang auf ihrer Stirn brennen konnten.
    Reiks Stimme gehörte zu denen, die mit einer Ausbildung zwar ausdrucksvoller geworden wären, deren Charakter aber andererseits gerade in der Schlichtheit und Schmucklosigkeit bestand, mit der er sie einsetzte. Kraftvoll, ohne Raffinesse, schnörkellos! Er gab zurück, was die Natur ihm geschenkt hatte, so,wie er es bekommen hatte, reichte er sein Talent weiter, während Aletta es mit Vera Etzolds Hilfe wie einen Edelstein geschliffen und immer kostbarer gemacht hatte.
    Ihr Programm nahm allmählich Gestalt an. Sie entschieden sich für Lieder – vornehmlich Schumann- und Mendelssohn-Duette –, die mit Klavierbegleitung darzubieten waren, da es ja kein Orchester gab, das sie begleiten konnte. Noch fehlte zwar das Klavier, aber der Inselkommandant hatte sich wie versprochen dafür eingesetzt, dass eines zur Verfügung stehen würde. Das »Grand Hotel« besaß ein Klavier, das seit Kriegsbeginn nicht mehr benutzt worden war, und der Hotelbesitzer war bereit, es für den Auftritt von Aletta Lornsen in die größte Baracke der Inselwache transportieren zu lassen, die im Klappholttal stand. Und Oberst von Rode würde den Oberleutnant, der ein guter Pianist sein sollte, vom Dienst freistellen, solange und sooft Aletta es wollte.
    »Wenn ich ein Vöglein wär ...« Damit würden sie das Konzert eröffnen. Reik war zwar der Meinung, Aletta solle mit einem Solo beginnen, aber sie bestand darauf, gemeinsam mit ihm vor ihr Publikum zu treten. Dann erst würde sie ein Solo, vielleicht eine Opernarie, singen, bis es mit dem Duett »So wahr die Sonne scheinet« weitergehen würde. Am Ende dann das Schumann-Lied »An den Abendstern«, und an den Schluss des Programms setzte Aletta auch diesmal »Guten Abend, gut’ Nacht ...«.
    Sie sang es über die Köpfe von Reik und Jorit hinweg, nur Ludwigs Gesicht vor Augen, sein Lächeln, seine Anerkennung, seine Liebe.
    »Sing, wenn du an mich denkst! Sing, wenn du mir nah bist!«
    Es war sowohl von Jorits als auch von Reiks Gesicht abzulesen, dass sie wussten, für wen sie sang, wenn sie das Konzert mit diesem Lied abschloss.
    »Schau im Traum ’s Paradies ...«
    Sie kehrte von einer langen Reise zurück, als die beiden zu applaudieren begannen, von einem geraden Weg an LudwigsSeite und einer beschwerlichen Strecke mit einem kleinen Kind auf dem Arm – dann war sie wieder auf Sylt angekommen. Zunächst im Alten Kursaal, wo Insa nicht unter den Zuschauern gewesen war, dann in diesem Zimmer, wo sie ebenfalls auf Insas Anwesenheit verzichten musste.
    Sie dachte an den Abend, an dem sie für die letzten Gäste der Pension Lornsen gesungen hatte, und an die Tränen, die Insa vergossen hatte, als sie ihr im Garten lauschte, wo sie sich unbeobachtet glaubte ...
    Reik stand auf, griff nach Alettas Hand und küsste sie. »Was für eine Stimme! Ich bewundere dich!«
    Dass er sie nun duzte, begründete er nicht, Aletta verlangte auch keine Erklärung, sondern nahm die vertrauliche Anrede auf, die in dieser Stunde der Gemeinsamkeit so selbstverständlich war wie das Ineinandergreifen ihrer Hände beim letzten Ton ihres Duetts.
    Jorit stand auf und trat auf sie zu, mit einem Lächeln, wie es auch auf Ludwigs Gesicht gestanden hatte, wenn er einer Probe beigewohnt hatte, die Aussicht auf ein besonders gelungenes Konzert versprach.
    »Die Kameraden werden begeistert sein«, sagte Jorit. Er starrte durch das Fenster und runzelte die Stirn.

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