Sturm über Sylt
plötzlich sicher, geradezu siegessicher. So, als hätte er Zusammenhänge erkannt und verstanden, auf die er stolz war. »Ich kenne die Namen, aber ich sage sie nicht. Das ist gefährlich. Ich sage keinen Namen. Ich verrate sie nicht. Das habe ich versprochen.«
Aletta schaffte es nun, sich zu entspannen, die Muskeln locker zu lassen, sich nicht mehr gegen die Fesselung und den Knebel zu wehren. Es tat ihr gut. Die Schmerzen in den Beinen und im Rücken ließen nach, die Mundhöhle weitete sich, der Knebel quälte etwas weniger. Die Angst wurde geringer, als sie mit einem Mal begriff, von wem sie überwältigt worden war. Nein, er war nicht gefährlich, er war nur voller Angst. Er würde ihr kein Haar krümmen, wenn er nicht fürchten musste, verraten zu werden.
Mit rhythmisch hervorgestoßenen Lauten versuchte sie, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass sie etwas sagen wollte. Tatsächlich verlor er nun seine Starre. Sehen konnte sie es nicht, aber sie spürte und hörte, dass er sich bewegte. Als er sich über sie beugte, konnte sie ihn schattenhaft sehen und seinen Atem riechen.
»Was willst du?«, fragte er.
Sie antwortete mit aufgeregten Lauten, und schließlich nahm er ihr den Knebel aus dem Mund.
»Danke«, stieß sie hervor. »Ich werde nicht schreien. Ganz bestimmt nicht.«
»Leise«, zischte er. »Niemand darf uns hören.«
Ihre Hand suchte nach ihm. Als sie einen groben wollenen Stoff erreichte, hielt sie sich an ihm fest. »Ich bin schwanger«, log sie. »Morgens wird mir übel. Dann muss ich erbrechen. Stelldir vor, das passiert, während ich geknebelt bin. Ich werde ersticken. Dann hast du ein Menschenleben auf dem Gewissen. Willst du das?«
Er antwortete nicht, aber sein Atem ging schneller.
»Ich habe Schmerzen«, fuhr sie fort. »Meine Beinmuskeln sind schon ganz starr. Es tut schrecklich weh. Morgen früh werde ich es vor Schmerzen nicht aushalten können. Wenn du mich fesseln musst, dann bitte anders.« Als er nicht reagierte, versuchte sie, noch einmal an sein Gewissen zu rühren. Sie war sicher, dass er noch nie jemandem etwas zuleide getan hatte. »Wenn ich die Schmerzen nicht mehr aushalte, wird mein Herz stillstehen. Dann bin ich tot.«
Nun fühlte sie seine Hände. Er war tatsächlich bereit, ihre Fesseln zu lösen. Sie stöhnte erleichtert auf, als sie ihre Beine ausstrecken konnte. »Danke.«
»Die Hände nicht«, sagte er mit einer harten Stimme, zu der er sich zwang. Aletta war sicher, dass er noch nie so gesprochen hatte.
Sie versuchte nicht, ihn dazu zu überreden, auch ihre Hände freizugeben. Nicht zu viel verlangen! Er war so schwach, hatte Angst, etwas Falsches zu tun. Sie durfte ihn nicht weiter verunsichern.
»Danke«, sagte sie noch einmal, um seinem Selbstbewusstsein Stärke zu geben. »Du könntest zu meiner Schwester gehen und ihr sagen, dass ich hier bin. Dann wird alles gut.«
»Du darfst nichts wissen«, sagte er erschrocken, und sie bekam es mit der Angst zu tun, als sie das Zittern seiner Stimme hörte. In diesem Moment schien ihm aufzugehen, dass etwas geschehen war, was nicht sein durfte, was ihn in Schwierigkeiten bringen konnte. Insa hatte ihm eingeschärft, ruhig zu sein, damit ihre Schwester nicht hörte, dass sich jemand auf dem Speicher versteckte.
»Du darfst nichts wissen«, wiederholte er, und es klang, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.
»Ich sage nichts«, antwortete Aletta hastig. »Auf keinen Fall werde ich dich verraten. Es ist richtig, dass du nicht in den Krieg gezogen bist. Krieg ist schrecklich.«
Sie wartete angespannt auf seine Reaktion. Nun musste er wissen, dass sie ihn erkannt hatte. Wie würde er damit umgehen?
»Du entkommst mir nicht«, zischte die Stimme. »Ich habe dich in der Hand. Wann kapierst du das endlich?«
Eine Antwort kam nicht, nur ein sprungartiges Geräusch folgte, ein Stöhnen, das in einem langgezogenen Seufzer endete.
»Das wird ein Spaß, wenn alle Welt davon erfährt! Jedenfalls für mich! Oder was glaubst du?«
Das Schweigen, das diese Frage beantwortete, schien tödlich zu sein. Ein Schweigen, das schreien konnte!
»Du wirst mich nicht los. Ich habe jetzt alles durchschaut. Ich weiß, dass ich recht habe. Ich weiß es genauso gut wie du. Also, überleg’s dir. Lieber ist mir natürlich, du tust es freiwillig. Aber nötig ist es nicht. Ich kann auch anders.«
Die Geräusche, die folgten, rührten eindeutig von einem körperlichen Angriff her. Jemand wurde bedrängt, der sich heftig wehrte.
Weitere Kostenlose Bücher