Sturm über Sylt
ihm aus.« Dass bis jetzt noch kein Klavier aufgetrieben worden war, machte dem Oberst kein Kopfzerbrechen. »Das finden wir! Notfalls beschlagnahmen wir eines!«
Aletta hielt das Gespräch für beendet und wollte sich verabschieden, aber da stellte sich heraus, dass der Oberst noch einen Trumpf im Ärmel hatte. »Ich soll Sie von meinem Freund Anton Heussner grüßen«, sagte er mit einem geheimnisvollen Lächeln. »Er wartet in Hamburg quasi auf Sie. Ein Wort von Ihnen, und Ihr Ersatz wird auf den zweiten Platz verwiesen.«
Tatsächlich war es jetzt mit Alettas kühler Beherrschung vorbei. Wieder singen! Wieder auf der Bühne stehen! In einem großen Theater, nicht in einer Baracke vor Soldaten, die noch nie ein Konzert erlebt hatten! Aber ... Sylt verlassen? Ohne dem Geheimnis ihrer Herkunft auf die Spur gekommen zu sein? Sie spürte, dass sie damit ihre letzte, nein, ihre einzige Chance vertun würde. Wenn nicht jetzt, dann würde sie niemals erfahren, wer ihr Vater war, von wem sie abstammte und was dieser Mann für ihre Mutter bedeutet hatte. Zurzeit war sie als Sylterin hier, als Mitbesitzerin des Hauses, in dem sie wohnte. Hätte sie einmal ihre Koffer gepackt, konnte sie nur noch als Gast zurückkehren, mehr würde Insa nicht zulassen.
Oberst von Rode, der ihr Zaudern bemerkte, half ihr: »Selbstverständlich müssen Sie sich nicht sofort entscheiden. Überlegen Sie sich die Sache.«
Aletta stand auf und streckte ihm die Hand hin. »Das werde ich. Es gibt noch ein paar Dinge für mich zu erledigen, aber danach ...«
Sie wagte es nicht, den Satz zu Ende zu sprechen, doch wie er sich in ihrem Kopf vervollständigte, gefiel ihr durchaus. Der Oberst war es dann, der etwas zu Sprache brachte, woran sie nicht gedacht hatte. Auf Sylt hatte sie bis jetzt ohne Gefahr gelebt.Kein Angriff von See, keine Bombardements, kein Einmarsch. »In Hamburg ist es zwar nicht so ruhig wie hier, man muss täglich mit Luftangriffen rechnen, aber das Theater hat einen guten Luftschutzkeller.« Als er merkte, dass er Aletta ein Gegenargument in die Hand gegeben hatte, ergänzte er schnell: »Das kann auch auf Sylt passieren. Ich denke gerade darüber nach, die Verdunkelung anzuordnen, damit wir wenigstens nachts vor Luftangriffen geschützt sind.«
Aletta zögerte. Auf Sylt brauchte sie keinen Luftschutzkeller. Jedenfalls bis jetzt nicht! Und Ludwig hatte sich gewünscht, dass sie hierblieb, weil sie auf Sylt am sichersten war. Sie hatte es ihm versprochen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Wie gesagt ... ich überlege es mir.«
Der Alltag kehrte zurück, auch in die Herzen derer, die Aletta nahestanden. Man wandte sich wieder den Gewohnheiten zu, Jorit aber blieb bei seinen häufigen Besuchen, beendete fast jeden Dienst am Strand im Hause Lornsen und wollte nicht darüber rätseln, ob seine Schwiegermutter davon Kenntnis hatte. Reik kam ebenso oft, um mit Aletta zu üben. Wenn Insa ihn hereinließ, drehte sie sich nach einem kurzen Gruß um, ließ die Tür offen stehen und kümmerte sich nicht darum, ob Reik eintrat und wohin er sich wandte. Sie blieb dann so lange verschwunden, bis die Proben abgeschlossen waren, am liebsten kam sie erst wieder hervor, wenn Reik aus dem Haus war. Jorit allerdings hörte den Proben gern zu, gab Ratschläge, was das Repertoire betraf, konnte genau schildern, wie die Darbietung auf ihn wirkte, und mutmaßen, welche Gefühle sie bei den Kollegen der Inselwache auslösen musste, unter denen es viele gab, die noch nie einem Konzert beigewohnt hatten. Er wurde zu einem so wertvollen Ratgeber, wie Ludwig einer gewesen war. Dass er oft die Blicke zwischen Reik und Aletta hin- und herwandern ließ, dass er sie verglich, dass er Einzelheiten in dem einen entdeckte und im anderen suchte, bekam nur Aletta mit.
»Ihr seht euch ähnlich«, sagte er an einem Abend leise zu Aletta. »Und ihr habt dieselbe Begabung. Vielleicht hätte auch Reik eine Laufbahn als Sänger einschlagen können, wenn er das Glück gehabt hätte, ausgebildet zu werden.«
Dieser Gedanke war Aletta längst gekommen, und sie war Vera ein weiteres Mal dankbar für ihre Hilfe. Dass sie für ihr Ziel Unrecht hatte begehen müssen, wog nicht mehr schwer, nein, hatte sogar jedes Gewicht verloren. Dirk Stobart und Sönke, die unglücklich verheiratete Emme, Weike, die von ihrem Mann verlassen worden war, Kai Stobart, der als verschollen galt, sie waren nun Teil ihres Publikums geworden, Ehrengäste, die in der ersten Reihe sitzen durften,
Weitere Kostenlose Bücher