Sturm über Sylt
das Bett ihrer Eltern abgestellt. Sie wusste es, aber sie sah es nicht. In dieser Ecke herrschte Dunkelheit, nur einen weißen Fleck konnte sie ausmachen, vermutlich die Matratze, die Insa mit einem alten Betttuch abgedeckt hatte.Wenn sie etwas sehen wollte, brauchte sie Licht. Sie tastete nach den Streichhölzern, wusste aber, dass sie es nicht wagen würde, sie anzuzünden. Nicht, solange es diese Feigheit in ihr gab. Die Angst vor dem, was sie zu sehen bekommen würde, wog plötzlich schwerer als die Ungewissheit.
Vorsichtig machte sie einen Schritt zurück und erschrak vor dem Geräusch, das er verursachte. Sie würde am nächsten Tag wiederkommen, beschloss sie. Es würde sich schon eine Gelegenheit ergeben, in der sie genauso sicher vor Insas Kontrolle sein würde wie an diesem Abend. Noch ein Schritt rückwärts, die Augen starr auf den hellen Fleck gerichtet, der im Zwielicht vor ihren Augen flimmerte und verschwamm, je intensiver sie ihn fixierte. Ein weiterer Schritt zurück! Nun, da sie der Tür näher kam, entstand der Impuls, sich umzudrehen und so schnell wie möglich vom Speicher zu fliehen. Doch bevor sie ihm nachgeben konnte, war es schon zu spät. Ein heftiges Geräusch sprang ihr in den Rücken, bekam Arme und Hände, die nach ihr griffen, machten sie schlagartig wehrlos und genauso schnell stumm. Ein Unterarm legte sich über ihre Kehle und drückte sie zu. Entsetzt rang sie nach Luft, wich vor der Qual zurück, drängte sich notgedrungen an einen Körper, der ihr fremd war und der sie nun wütend vorwärts stieß.
Sie wollte um Hilfe schreien, konnte aber nur hervorwürgen: »Insa!«, ehe sie auf die Matratze geworfen wurde. Und in dem winzigen Augenblick, in dem der Angreifer ihr Luft ließ, versuchte sie es noch einmal mit dem Hilfeschrei: »Insa!«
Aber schon war er über ihr und presste ihr die Hand so fest auf Mund und Nase, dass sie keine Luft mehr bekam. Sie roch erstaunlich angenehm, diese Hand, das war ihr letzter Gedanke, ehe sie ohnmächtig wurde ...
Als sie wieder zu sich kam, war sie geknebelt und gefesselt. Mit angezogenen Beinen lag sie auf der Seite und versuchte, sich zu bewegen. Es ging nicht. Ihre Füße waren hinter dem Körper gefesselt,die Handgelenke auf dem Rücken. Wimmernd versuchte sie, den Kopf zu bewegen, um den Knebel zu lockern, aber es gelang ihr nicht. Mit aller Macht unterdrückte sie das Würgen, das in ihrer Kehle entstand und einen Weg nach draußen suchte. Nur nicht erbrechen! Sie würde ersticken, qualvoll, hilflos, unfähig, sich gegen den Tod zu wehren. Ludwigs Bild erschien wie ein Blitz vor ihren Augen. Hatte er auch diese Todesangst erlebt? Versucht, sich zu retten und um sein Leben gefleht? Nein, sie wusste, er war aufrecht in den Tod gegangen. Bittend, flehend und jammernd konnte sie sich Ludwig Burger nicht vorstellen. Aber dass sie selbst genauso tapfer sein würde, glaubte sie nicht.
Stöhnend machte sie auf sich aufmerksam. Der Mann, der sie niedergeschlagen, geknebelt und gefesselt hatte, musste in ihrer Nähe sein! Oder hatte er sie etwa allein zurückgelassen? Hilflos? Ausgeliefert? Wenn ja, wohin war er dann gegangen? Ins Haus, die Treppe hinunter, aus der Tür hinaus? Unmöglich! Insa hätte ihn bemerkt.
Panik stieg in ihr hoch, stand wie heruntergeschluckte Tränen in der Kehle, vergrößerte die Atemnot und den Reiz, zu würgen. Aber dann endlich hörte sie ein Geräusch: das Scharren von Füßen, das Klappern eines Schemels. Sie versuchte, die Gestalt zu erkennen, die auf sie zukam, doch es war zu dunkel, um dem Mann ins Gesicht sehen zu können. Nur dass es sich um einen Mann handelte, wusste sie.
»Warum bist du auch hier raufgekommen?«, fragte er, und ihr fiel nun auf, dass sie seine Stimme schon einmal gehört hatte. »Selber schuld. Hier darf sonst keiner sein. Nur ich. Und die Frau.«
Welche Frau?, hätte sie gerne gefragt, brachte aber nur ein Wimmern heraus.
Seine Stimme klang erschöpft. »Wenn sie kommt, frage ich sie. Sie weiß, was zu tun ist. Morgen früh kommt sie. Sie weiß alles. Sie weiß auch, was mit dir geschehen soll.«
Morgen früh? Aletta dachte nach. Meinte er etwa Insa? Außer Insa konnte niemand auf den Speicher kommen.
»Eine gute Frau«, sagte die Stimme, und nun bemerkte sie das Nuscheln, die Schwierigkeit, klare Laute herauszubringen, die tief in der Kehle sitzenden Konsonanten. Seine Sätze waren schlicht. Was er sagte, klang hilflos. »Die andere Frau ist auch gut.« Nun wurde seine Stimme
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