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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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wird es leicht sein, einen Fischer zu überreden, Sönke aufs Festland zu bringen.«
    »Er hat sein ganzes Leben auf der Insel verbracht. Wie soll er allein auf dem Festland zurechtkommen?«
    »Besser als im Krieg wird es allemal für ihn sein.«
    Aletta betrachtete ihre Schwester kopfschüttelnd. »Ich verstehe immer noch nicht, warum du dich darauf eingelassen hast. Frauke Lützen ist keine Freundin von dir. Trotzdem lässt du dich von ihr dazu verleiten, einen Deserteur zu verstecken?«
    »Es geht nicht um Frauke, sondern um Sönke. Er ist ein lieberKerl. Frauke kennt ihn von klein auf. Sie kann es genauso wenig ertragen wie ich, dass er zu Kanonenfutter wird.«
    Aletta ließ sich viel Zeit mit dem Käse und dem Verzehr des Brotes. Bevor sie hineinbiss, sagte sie so lapidar wie möglich: »Sie ist Sönkes Mutter. Habe ich recht?«
    Aber nun hatte sie den Bogen überspannt. Mit der kurzen Annäherung war es vorbei. Als Insa sie gefesselt vorgefunden hatte, war aus Mitleid und Schuldbewusstsein ein Moment der Wärme entstanden. Aber nun hatte Aletta sich zu weit vorgewagt. Insa überschüttete sie mit eiskalter Verachtung.
    »Sönkes Mutter? Sie war eine ganz gemeine Diebin! Sie hat nicht nur ihr Kind ausgesetzt, sondern auch die Kollekte gestohlen. Nicht nur ein einziges Mal! Immer wieder! Die anderen Diebstähle, die es zu jener Zeit gab, gehen vermutlich auch auf ihr Konto. Weißt du eigentlich, was du da behauptest?«
    »Ich dachte nur ...«
    »Damals war Frauke noch gar nicht auf Sylt!«
    Aletta wurde einer Entgegnung enthoben. Es klopfte an der Tür, und das laute Pochen hörte sich so an, als hätte derjenige, der auf der Schwelle stand, schon mehrmals Einlass begehrt.
    Insa stockte, schluckte ihren Ärger hinunter und wischte sich die Empörung aus dem Gesicht. Staunend betrachtete Aletta diese Verwandlung und fragte sich, ob sie auch schon so oft von ihrer Schwester getäuscht worden war wie Hinrika Oselich, die kurz darauf in der Küche erschien und nichts davon mitbekam, dass es noch kurz zuvor einen schweren Konflikt zwischen den Schwestern gegeben hatte.
    »Stellt euch vor!«, rief sie. »Der kleine Mügge ist gestorben! Ist das nicht entsetzlich? Seine Mutter würde sich vor lauter Verzweiflung am liebsten umbringen!«

XI.
    Auf Sylt war es schon immer so gewesen, dass die Nachbarschaft zusammenkam, wenn es einen Todesfall gegeben hatte. Die Hinterbliebenen sollten nicht allein sein und sich davon trösten lassen, dass viele mit ihnen trauerten. Insa ordnete ihre Haarflechten neu, band sich die helle Schürze ab und forderte Aletta auf, das Gleiche zu tun. »Wir müssen kondolieren.«
    Als sie aus dem Haus traten, kam Pfarrer Frerich die Stephanstraße herab, eiligen Schrittes, um so schnell wie möglich seinen seelsorgerischen Pflichten nachzukommen. Er winkte den Schwestern zu, betrat vor ihnen das Haus der Mügges und ließ die Tür offen, damit sie folgen konnten.
    Okka Mügge saß im Wohnzimmer in einem tiefen Sessel, der eigentlich ihrer Schwiegermutter vorbehalten war, die ihn aber für diesen Fall geräumt hatte. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte. Die alte Mügge stand hinter ihr und streichelte hilflos ihre Schultern, Okkas Tränen jedoch versiegten nicht. Als der Pfarrer auf sie zutrat und sie ansprach, nahm sie die Hände vom Gesicht, hörte aber nicht auf zu weinen. Ihr Gesicht war verquollen, ihre Augen waren blind vor Tränen, der Speichel lief ihr aus den Mundwinkeln. Sie warf sich, als der Pfarrer nach ihrer Hand griff, gegen die Rückenlehne des Sessels und weinte mit weit geöffnetem Mund.
    Ihr Leid machte Aletta stumm. Sie starrte Okka Mügge auf die Füße, während sie an ihr eigenes Kind dachte. Auch ihr war es genommen worden, aber sie hätte es für Ludwig hergegeben, wenn Hauptmann Kalkhoff nicht Schicksal gespielt hätte. Wäre sie auch zu dieser Trauer fähig gewesen, wenn sie ihr Kind geboren hätte? Wenn es in ihrem Arm gelegen, sich vertrauensvoll an sie geschmiegt hätte, so wie Sönke? Wenn sie es aus ihrem Körper gequält, wenn es an ihrer Brust gesaugt hätte? Sie spürte, dass der Schmerz der jungen Mutter einen gefährlichen Sog ausübte, sie zu sich heranzog, obwohl sie es nicht wollte, sie mit ihremKummer umschlang und dass sie selbst drauf und dran war, ebenso um ihr Kind zu weinen wie Okka Mügge.
    Der Pfarrer setzte sich zu der verzweifelten Mutter und nahm ihre Hand. »Wir brauchen einen Arzt«, sagte er und sah in die Runde.
    Okkas

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