Sturm über Sylt
es bequemer hatte. Aletta selbst trug damals ihr dunklesWollkleid, das besonderen Anlässen vorbehalten war, Gottesdiensten, hohen Festtagen und Besuchen bei höhergestellten Verwandten. Es war dunkelblau und besaß einen weißen Kragen, den ihre Mutter gehäkelt hatte. Die ebenfalls dunkelblauen Strümpfe hatte ihre Patentante gestrickt und ihr zu Weihnachten geschenkt. Sie juckten fürchterlich, aber Aletta schaffte es, mit keiner Bewegung zu verraten, wie sehr diese wollenen Strümpfe sie quälten. Auch während des Ave-Maria war sie kein einziges Mal der Versuchung erlegen, sich zu kratzen. Mit rotem Kopf stand sie nun vor Vera Etzold, drehte an ihren dünnen Zöpfen und starrte das Zimmermädchen an, das ihr das wollene Tuch abnehmen wollte, ohne dass Aletta verstand. Schließlich griff das Mädchen einfach zu, zog ihr das Wolltuch von den Schultern und trug es hinaus. Ängstlich blickte Aletta ihr nach, voller Sorge, dass sie das Tuch später vergeblich suchen würde und ohne diesen Schutz nach Hause gehen und erbärmlich frieren müsste.
»Glaubst du«, fragte Vera Etzold am Ende, »dass deine Eltern einverstanden sein werden, wenn ich dich unterrichte? Ohne ihre Erlaubnis kann ich das nicht machen. Natürlich werde ich kein Geld dafür nehmen, mir ist schon klar, dass ihr keinen Unterricht bezahlen könnt. Es wäre mir eine Freude, dich zu unterrichten. Ich möchte aus dir etwas Großes machen. Du hast das Potential dafür.«
Aletta hatte keine Ahnung, was ein Potential war, aber eines wusste sie genau: Ihre Eltern würden niemals zulassen, dass sie Gesangsunterricht erhielt. Auch dann nicht, wenn sie ihn kostenlos bekam. Trotzdem knickste sie tief und antwortete: »Ich werde es meinen Eltern sagen. Ganz sicherlich werden sie einverstanden sein.«
Vera Etzold klingelte nach dem Zimmermädchen und ließ es auf einen Zettel schreiben, dass Aletta demnächst dienstags und freitags gegen drei Uhr nachmittags ins »Miramar« kommen solle. »Zwei Stunden werden wir jeweils brauchen. Sag das deinen Eltern.«
Aletta machte einen noch tieferen Knicks, ließ sich von dem Zimmermädchen auf den Hotelflur geleiten, nahm erleichtert ihr Wolltuch entgegen und stieg vorsichtig die Treppe ins Erdgeschoss hinab. Als der Portier auf sie zukam, wollte sie sich gerade rechtfertigen, dass sie sich nicht ins »Miramar« eingeschlichen habe, sondern von Frau Etzold eingeladen worden war ... da sprang er zur Tür, um sie für Aletta zu öffnen. Später dachte sie manchmal, dass nicht der erste Besuch bei Vera, sondern vor allem dieser Augenblick es gewesen war, der ihr Leben verändert hatte. Als sie das »Miramar« verließ, ohne selbst die Tür geöffnet zu haben, bekam sie eine Ahnung davon, welche Chance sie erhielt. So fest umklammerte sie den Zettel mit der rechten Faust, dass er vollkommen zerknüllt war, als sie zu Hause ankam.
Insa empfing sie misstrauisch. Sie war fünfzehn Jahre älter als Aletta, längst im heiratsfähigen Alter und in der Hausarbeit so geübt, dass sie ohne weiteres von einem Tag auf den anderen einen eigenen Haushalt hätte führen können. Aber Insa hatte beharrlich jeden Verehrer abgelehnt, von denen es mehrere gegeben hatte. Sie war eine hübsche Frau mit einem blassen, ebenmäßigen Gesicht und schönen blonden Haaren, die sie in dichten Flechten an den Kopf steckte. Eine majestätische Frisur! Aletta hatte als kleines Kind von einer Krone gesprochen, wenn sie die Haare ihrer Schwester bewunderte. Und wie hatte sie Insa angehimmelt! Ihre große Schwester, die so stark war, so unverwundbar schien, so beharrlich und unbeirrt ihren Weg ging. Sie schien ihn genau zu kennen, den Weg, den sie gehen wollte. Er führte nicht aus ihrem Elternhaus hinaus. Insa machte bald klar, dass sie in der Stephanstraße bleiben wollte. Die Ehe, Kinder, ein eigener Haushalt, das alles reizte sie nicht. Wenn die Eltern sich um die Zukunft ihrer Ältesten sorgten, sprach sie vom Fremdenverkehr, der ihr ein Auskommen sichern werde. Einen Ehemann brauche sie nicht. Und sie wolle keinen! Solange sie mit Feriengästen ihr Brot verdienen und ihr Auskommen sichern könne, würde sie zufrieden sein. Manchmal hörte Aletta auch die Nachbarnflüstern, dass aus Insa eine verbitterte, freudlose und unzugängliche Frau werden würde, mit der kein Mann sich verbinden wolle, wenn sie so weitermache. Und tatsächlich hatte das Interesse heiratswilliger Männer schnell nachgelassen, als bekannt geworden war, dass Insa zwar eine gute
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