Sturm über Sylt
großen graugrünen Augen ihre Haare gewesen, eine Fülle von schwarzen Locken, die sie zwar bändigte, indem sie sie im Nacken feststeckte, die sich aber immer der Ordnung widersetzten. Stets kringelten sich an ihrer Schläfe, an der Stirn und über den Ohren ein paar fliegende Löckchen, die sich aus der Zucht gelöst hatten. Wie sie sich auch mühte, es gelang ihr nie, so streng und vornehm auszusehen, wie sie es wollte. Ihre schwarzen Locken machten ihr täglich einen Strich durch die Rechnung.
Seit dem Tod ihres Mannes verbrachte sie jeden Sommer auf Sylt. Ende April oder Anfang Mai erschien sie und reiste selten vor dem August wieder ab. Das Vermögen, das sie geerbt hatte, erlaubte ihr einen großzügigen Lebensstil, aber zufrieden war sie mit diesem Müßiggang nicht. Sie vermisste ihren Beruf, bedauerte, dass sie keine Kinder hatte, für die sie sorgen konnte, dass es niemanden gab, der sie brauchte, und ihr Leben ohne ihr geringstes Zutun reibungslos funktionierte. In ihrem Haus in Kassel regierte eine Haushälterin, die Geschäfte ihres Mannes führte ein Neffe weiter, ihre Eltern lebten nicht mehr, und Geschwister hatte sie keine.
In dem Jahr, als Aletta zehn Jahre alt geworden war, kam Vera Etzold schon im Februar nach Sylt. Sie war mit dem Neffen ihres Mannes in Streit geraten, als sie versucht hatte, Einblick in kaufmännische Unterlagen zu bekommen, um etwas von dem Geschäft zu erfahren, das ihr den Lebensunterhalt sicherte. Der Neffe hatte sich kontrolliert gefühlt und nicht verstanden, dass Vera nur eine Beschäftigung suchte, die in ihren monotonen Alltag ein wenig Farbe brachte. Sie hatte es ihm nicht begreiflich machen können. Und aus Enttäuschung und Desillusionierung hatte sie ihre Haushälterin angewiesen, die Koffer zu packen und alles für eine Reise nach Sylt bereitzumachen. Während der Wintermonate war es zwar mühselig, auf die Insel zu kommen, aber sie wagte es trotzdem. Schon am Tag ihrer Ankunft, als sie feststellte, dass das »Miramar« nur wenige Gäste beherbergte und auf der Plattform keine Urlauber flanierten, wurde ihr jedoch klar, dass sie sich auch in Westerland langweilen würde. Nur deshalb entschloss sie sich, einem Gottesdienst beizuwohnen, nachdem sie gehört hatte, dass dort ein junges Mädchen das Ave-Maria singen würde, von dessen schöner Stimme die Sylter mit Hochachtung sprachen. Aletta Lornsen sang angeblich so glockenrein, wie es auf Sylt noch nie gehört worden war. Nachdem Vera Etzold dem Ave-Maria gelauscht hatte, wusste sie plötzlich, womit sie ihrem Leben wieder einen Sinn geben konnte ...
Aletta hatte mit offenem Mund zugehört, als Vera ihr erzählte, wie einsam sie sich in ihrem großen Haus in Kassel fühlte, obwohl es dort viele Dienstboten gab und sie keine einzige Stunde des Tages allein war. Noch nie hatte Aletta jemanden darüber klagen hören, dass er nichts zu tun hatte und sich langweilte, weil es keine Beschäftigung gab, die für eine reiche Witwe angemessen war.
»Ich war Sängerin! Erste Sopranistin am Stadttheater von Göttingen!«
Aber der Neffe ihres Mannes habe ihr sogar offen gedroht, wenn sie es wagen sollte, den Namen ihres verstorbenen Mannes und damit den Namen seiner Firma in den Schmutz zu ziehen, indem sie sich auf einer Bühne einem Publikum präsentiere, das vielleicht zunächst applaudieren, aber schon auf dem Nachhauseweg darüber tuscheln würde, wie schamlos es für eine Witwe sei, sich dermaßen zur Schau zu stellen. Nein, ihr Wunsch, wieder als Sängerin aufzutreten, war ihr so rundweg abgeschlagen worden, dass sie nicht wagte, sich gegen die Familie ihres Mannes zu stellen.
»Wenn du willst, gebe ich dir Gesangsunterricht«, sagte Vera Etzold derart unvermittelt, dass Aletta regelrecht erschrak. »Die Natur hat dir eine wunderschöne Stimme geschenkt, aber wenn du so weitermachst, wird sie bald kaputt sein. Du musst lernen, sie richtig einzusetzen. Ich glaube, ich kann aus dir eine große Sängerin machen.«
Den Moment, in dem Vera Etzold diese unglaublichen Worte aussprach, vergaß Aletta nie. Jede Einzelheit dieses Augenblicks blieb ihr im Gedächtnis. So erinnerte sie sich genau, dass der Raum überheizt war und dass Vera Etzold trotzdem einen warmen Schal trug. Der war so weich, dass er, als er sie im Vorübergehen zufällig streifte, kaum zu spüren war. Und noch Jahre später konnte Aletta sich an Veras dunkelgrünes Seidenkleid erinnern und dass ihr ein Zimmermädchen ein Fußkissen brachte, damit sie
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