Sturm über Sylt
paar Gespräche führen.«
»Weil es Krieg geben könnte?«, fragte Aletta, ohne sich umzusehen.
Aber Ludwig antwortete nicht. Er antwortete nie, wenn sie ihm solche Fragen stellte. Und Aletta war froh darüber, dass er nichts sagte, was ihr Angst machte. Hätte sie eine Antwort befürchten müssen, hätte sie nicht gefragt. Krieg! Dieses Wort passte nicht in ihr Leben. Hier auf Sylt noch weniger als in Wien. Dieser Mord in Sarajewo war schrecklich, aber warum sollte daraus ein Krieg entstehen? Aletta schaffte es auch diesmal, diese Frage abzuschütteln wie ein lästiges Insekt.
Ludwig hatte das Abendessen aufs Zimmer bestellt. Auf keinen Fall wollte Aletta sich in den Speisesaal des »Miramar« begeben, wo sie begafft oder womöglich sogar angesprochen wurde. Als der Kellner die Garnelen auf Zitronenrisotto servierte, wurde es bereits dunkel. Ludwig selbst übernahm es, die Kerzen anzuzünden, und bat den Kellner, noch weitere zu holen, weil sie auf elektrisches Licht verzichten wollten.
Sie hatten den Tisch ans Fenster rücken lassen, aßen schweigend, beide mit Blick aufs Meer. Ludwig schien erneut über die politische Lage nachzudenken, Aletta betrachtete das Meer, bis es so schwarz war wie der Himmel. Der Wind war wieder eingeschlafen, es gab nur eine leichte Brandung, die kaum zu hören war. Gelegentlich zeigten sich ein paar Gischtkronen auf der dunklen Wasserfläche. Die Lampen, die die Plattform beleuchteten, auf der tagsüber die Feriengäste flanierten, färbten den Abend direkt vor den Fenstern grau, dahinter gab es nur tiefe Schwärze. In Wien, wo auch die Nacht voller Lichter war, hatte sie vergessen, dass es diese machtvolle Dunkelheit gab, die sie doch eigentlich von klein auf gut kannte. Auch das Haus an derStephanstraße hatte sich vor dieser Finsternis geduckt, wenn es Nacht wurde.
»Ich würde gerne einen Spaziergang machen«, sagte sie.
Ludwig sah erstaunt auf. »Bist du sicher? Du wolltest dich vor dem Konzert nicht draußen blicken lassen.«
»Es ist dunkel.«
Über sein Gesicht ging ein Lächeln. »Du willst zum Haus deiner Eltern?«
Aletta lächelte ebenfalls. Wie gut er sie kannte! Immer wieder verblüffte er sie damit, dass er ihre Gedanken aussprach.
Die Luft war milde, nur gelegentlich wurde sie von einer Bö aufgefrischt. Ihr Weg führte zunächst auf den Höhepunkt der Düne, wo das Meer zu hören und trotz der Finsternis auch zu sehen war, wo es mit langen dunklen Fingern auf den Strand griff und seine Spuren auf dem hellen Sand hinterließ. Während Aletta einer Brise das Gesicht hinhielt, das Salz zu schmecken glaubte und meinte, das Meer laufe auf sie zu, fragte sie sich, wie sie so lange ohne das ausgekommen war, was Sylt ausmachte. Aber nach einer Antwort wollte sie nicht suchen.
Sie gingen aneinandergeschmiegt die Friedrichstraße entlang. Aletta betrachtete jedes der großen Häuser ausgiebig und kommentierte, was sich in den vergangenen zehn Jahren verändert hatte. »Als ich ging, war die Friedrichstraße noch nicht gepflastert«, erklärte sie Ludwig. »Aber Kanalisation und Wasserleitungen gibt es schon seit 1901. Und Elektrizität sogar seit 1893.«
Sie hatte auf einen Hut verzichtet und sich ein Tuch über den Kopf gelegt, um sich nicht schon in ihrem Umriss von einer Sylterin zu unterscheiden, die niemals einen Hut trug. Beide waren sie dunkel gekleidet, schlicht und unauffällig. Wer ihnen begegnete, würde nicht auf sie aufmerksam werden.
»Bist du enttäuscht?«, fragte Ludwig.
Aletta musste schlucken, ehe sie antworten konnte: »Die Stephanstraße liegt dem Ostbahnhof sehr nahe. Sie müssen den Zug gehört haben.«
»Hast du dir heimlich gewünscht, dass sie am Bahnhof auf dich warten?«
Aletta zögerte noch einmal, dann schüttelte sie den Kopf. »Es ist gut so. Erst das Konzert! Das wird sie überzeugen! Dann müssen sie verstehen, warum ich ihnen das angetan habe. Dann müssen sie begreifen, dass ich nicht anders konnte und dass es ihr Fehler war, mich davon abhalten zu wollen.«
»Du hast recht«, bestätigte Ludwig.
Er hatte es vor der Reise wohl hundertmal bestätigt. Und natürlich hatte er auch gemerkt, dass sie am Bahnhof ihrem Vorsatz untreu geworden war. Sie hatte sich den Wartenden zugewandt, hatte versucht, jeden Einzelnen zur Kenntnis zu nehmen, hatte alten Bekannten zugenickt und anderen ein kurzes Winken geschenkt. Aber das alles erst, nachdem sie erkannt hatte, dass ihre Eltern und auch Insa nicht zum Bahnhof gekommen waren. So
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