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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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nachsehen wollte, was hier los ist. Und derjenige wäre am Ende durch die Küche oder den Gästetrakt hereingekommen.«
    »Nachdem er sich darüber gewundert hat, dass die Haustür abgeschlossen ist«, vollendete Frauke.
    Aletta warf ihr einen kurzen Blick zu. »Auf Sylt werden die Türen nur nachts verschlossen. Und das auch erst, seit es damals diese Diebstähle gab. Sie erinnern sich? Das war, nachdem das Findelkind in der Sakristei gefunden worden war.«
    Frauke antwortete nicht, ließ den Blick nicht von Sönkes Gesicht und gab nicht zu verstehen, ob sie Alettas Worte überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Aletta betrachtete lange ihre verschlossene Miene, die fahle Haut, die Falten in den Augen- und Mundwinkeln, die Müdigkeit, die in Fraukes Gesichtszügen lag, und die Kraft, die sich gleichzeitig dort verbarg.
    »Ach, richtig«, sagte sie nun. »Damals waren Sie ja noch nicht auf Sylt. Wann sind Sie vom Festland herübergekommen?«
    »Kurz darauf«, gab Frauke zurück. »Mir wurde noch von dem Findelkind erzählt. Von Sönke ...« Sie griff nach seiner Hand und streichelte sie. »Dass er in der Sakristei gefunden worden war, hieß es, von einer Frau, die so verdorben war, dass sie sogar die Kollekte stahl.«
    Sie schwiegen eine Weile in Sönkes Gesicht hinein, das so jung war wie das eines Kindes. Schließlich flüsterte Aletta: »Haben Sie keine Angst? Es wird nach den Deserteuren gesucht. Einer ist bereits erschossen worden, und seine alte Tante, die ihn versteckt hat, sitzt im Gefängnis. Wer weiß, ob sie jemals wieder rauskommt.«
    Aber Frauke schüttelte den Kopf. Aletta wartete auf eine Erklärung, woher sie ihre Zuversicht nahm, doch Frauke Lützen schwieg.
    »Und meine Schwester? Ihr Risiko ist noch größer. Schließlich wird Sönke in diesem Haus versteckt, nicht in Ihrem.«
    Auch diesmal antwortete Frauke nicht, sie gab auch mit keiner Geste oder Kopfbewegung zu verstehen, was sie von Insas Bereitschaft hielt, Sönke zu helfen. Sie stand auf und strich sich umständlich den Rock glatt. Dann griff sie nach dem Bettpfosten, damit sie sich ein wenig aufrichten konnte. Aber ihr gebuckelter Rücken erlaubte es ihr nicht, Aletta gerade in die Augen zu blicken. »Ihre Schwester weiß schon, was sie tut«, sagte sie und wandte sich ab. Mit einer nachdrücklichen Geste legte sie den Schlüssel zum Speicher auf Sönkes Decke.
    Aletta nickte, blieb bewegungslos sitzen, bis Frauke verschwunden war, dann erst stand sie auf. Insa würde früh genug erfahren, dass sie den Hausschlüssel verloren hatte. Sie nahm den Speicherschlüssel und schloss die Tür von innen ab. Dann lief sie zu der Korbtruhe und öffnete sie. Diesmal ging sie unvorsichtiger vor, schneller, zielgerichteter. Alles, was die Mäuse bereits angeknabbert hatten, gab sie verloren und tastete sich zum Grund der Truhe, wo ihre Fingerspitzen auf unversehrtes Papier stießen. Aber sie wurde enttäuscht. Alte Rechnungen fand sie, vornehmlich von Ärzten, die den Eltern anscheinend zu wichtig erschienen waren, um sie wegzuwerfen, und verschiedene Briefe, meist mit behördlichen Köpfen, die Aletta ungesehen zur Seite legte. Dann bekam sie ein Briefblatt zu fassen, das dicker zu sein schien als alle anderen. Sie rieb es zwischen Daumen und Zeigefinger, und schon löste sich ein zweites Blatt vom ersten. Durch eine Spur von Feuchtigkeit, die jetzt noch an einem dunklen Klecks zu erkennen war, hatte sich die hintere Seite mit der vorderen verklebt.
    Vorsichtig löste Aletta ein Blatt aus dem Tagebuch ihrer Mutter von dem Brief einer Ärztin, die ihr zur Geburt ihres zweiten Kindes gratulierte und sich freute, dass Witta Lornsen entgegen aller Voraussagen doch noch einmal schwanger geworden war. Aletta lauschte auf Sönkes tiefe Atemzüge, dann ließ sie sich auf einen Hocker sinken. Tjarko ist mir eine große Hilfe. Mit ihm kann ich reden, er versteht mich, ich hätte nie gedacht, dass gerade er ein so guter Freund werden könnte. Ich nenne ihn natürlich nur beim Vornamen, wenn wir allein sind, aber es tut mir gut, diesen Namen auszusprechen, weil er mir zeigt, dass ich nicht ganz so allein bin, wie es mir manchmal vorkommt. Sonst habe ich ja niemanden zum Reden. Nur Tjarko, der mein Freund geworden ist, weil er mir mehr sein will als alle anderen. Das tut mir gut. Geert hat zur Bedingung gemacht, dass die Umstände von Alettas Erzeugung nie wieder zur Sprache kommen, und Insa würde ich vollkommen überfordern. Tjarko ist der Einzige, der mir zuhört

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