Sturm über Sylt
über seine Noten. »Wir können gleich beginnen? Oder gibt es noch etwas zu klären? Im Ausdruck? Im Tempo?«
Oberleutnant Schubert war prompt beeindruckt von Alettas Professionalität, die gerade von so viel Hochmut durchsetzt war, dass sie veredelt wurde. Als Aletta sich Reik zuwandte, merkte sie, dass sie Ludwigs gelehrige Schülerin gewesen und geblieben war. Reik bewunderte sie ganz offen, ihre Haltung, ihr Selbstbewusstsein, die Selbstverständlichkeit, mit der sie dem Oberleutnant begegnete. Anscheinend wusste auch er, dass es Schuberts Aufgabe war, nach Deserteuren zu fahnden. Aletta war froh, dass der Oberleutnant dem einfachen Gefreiten Martensen keine Aufmerksamkeit schenkte, sonst hätte er vielleicht die Angst in dessen Augen gesehen, die direkt neben der Bewunderung für Aletta ihren Platz hatte. Aber ob er diese Angst richtig interpretiert hätte? Vermutlich hätte er nur an die Angst des Untergebenen vor seinem Vorgesetzten gedacht.
Aletta machte ihre Stimmübungen, in die Reik einfiel, baute ihre Stütze auf, was auch Reik mittlerweile gelernt hatte, dann fügte sie noch ein paar Atemübungen an und gab zu verstehen, dass sie bereit war. Schubert ließ ein paar Akkorde und Läufe erklingen, um zu zeigen, dass er Herr seiner Klaviatur war, dann strich er die Noten zurecht, ließ die Hände über den Tasten schweben und sah Aletta erwartungsvoll an. Reik würdigte er keines Blickes.
Aletta wandte sich dem Saal zu, der dem »Grand Hotel« in Friedenszeiten als Raum für Feste, Hochzeiten, Familienfeiern gedient hatte, als wäre er gefüllt mit einem erwartungsvollen Publikum. Dabei fiel ihr Blick auf einen Vorhang, der nicht ganz geschlossen war. Dahinter wurden Tische und zusätzliche Stühle aufbewahrt. In dem geöffneten Spalt sah Aletta eine weiße Schürze, zwei Hände, die die beiden Vorhangteile hielten, und eine Gesichtshälfte, die ihr rechtes Auge zeigte. Weike Broders!
Als sie zu singen begann, lächelte sie in den Vorhang und sang so lange ausschließlich in diese Richtung, bis Weike es endlich wagte, den Spalt weiter zu öffnen und sich ganz zu zeigen. Nach dem ersten Lied ließ sie sich sogar von Aletta bitten, sich in eine Stuhlreihe zu setzen und ihr zuzuhören. Hochrot saß sie da und genoss das erste Konzert ihres Lebens. Genau zehn Minuten! Dann gab sie Aletta mit aufgeregten Handzeichen zu verstehen, dass ihre Pause zu Ende sei und sie zurück an ihre Arbeit müsse. In diesen zehn Minuten hatte Aletta sich nicht nur auf ihren Gesang konzentriert, sondern auch auf die Erinnerung, die mit Weike verbunden war. Sie sah wieder Weikes hoffnungsvolles Gesicht vor sich, wenn sie von ihrer Zukunft mit einem Kind sprach, und ihr glückliches Lächeln, wenn sie Bonckes Namen nannte. Und sie sah die heutige Trostlosigkeit in ihren Augen, die vielen Fragen, die ohne Antworten geblieben waren, die Tränen, die sie geweint hatte, ohne zu wissen, worum sie weinte. Um ihre verlorene Ehe, ja. Aber warum sie Boncke verloren, ja, nie besessen hatte, wusste sie bis heute nicht. Und dass sie sich selbst dieSchuld am Scheitern ihrer Zukunft gab, war an der Gefügigkeit und der Ergebenheit abzulesen, die es früher in ihrem Gesicht nicht gegeben hatte.
Während Aletta »Guten Abend, gut’ Nacht« sang, beschloss sie, Weike eine Antwort auf ihre Fragen zu geben. Sie hatte es verdient. Sie brauchte diese Antwort, auch wenn sie sich inzwischen damit abgefunden hatte, sie nie zu bekommen. Vielleicht bekam Weike doch noch die Chance für einen Neuanfang.
Reik hatte sich mehrere Patzer erlaubt und sah nicht besonders glücklich aus, als die Generalprobe beendet war. Alettas Trost: »Eine Generalprobe darf niemals perfekt sein, dann wird der Auftritt nicht gelingen!«, half ihm nicht. Er zweifelte plötzlich daran, ob es richtig gewesen war, ihr dieses gemeinsame Konzert vorzuschlagen. »Ich bin so viel schlechter als du. Ich habe mich überschätzt. Ich muss größenwahnsinnig gewesen sein.«
Aber Aletta beruhigte ihn und meinte es todernst: »Du hast eine wunderbare Stimme. Dass sie nicht ausgebildet wurde, macht sie nicht schlechter. Und du weißt, du hast mir mit der Idee, dieses Konzert zu geben, sehr geholfen. Allein hätte ich es nicht gewagt, das hast du gespürt, als du mir deine Hilfe angeboten hast. Also hör auf, dich zu fragen, ob es richtig war.« Sie berührte den Ärmel seiner Uniformjacke und lächelte ihn an, ohne auf Schuberts missbilligenden Blick zu achten. »Ich bin dir sehr
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