Sturm über Sylt
alle sein könnten, weilsie nicht mehr Gefahr liefen, dass seine Schmerzensschreie auf die Straße drangen. Für Insa war dennoch nur eines von Bedeutung: dass sie von ihrer Schwester hintergangen worden war. So nannte sie es. Aletta konnte noch so oft beteuern, dass sie Insa nur unterstützen wollte, es half nichts. Aletta hatte ein Geheimnis verraten, hatte ihr Versprechen nicht gehalten, und das wollte Insa ihr nicht verzeihen.
Am Ende verstummten sie beide. Insas Schweigen war kränkend, verletzend, tödlich, während Alettas Schweigen in der Verzweiflung eines zurückgestoßenen Kindes entstanden war, das nichts sagte, weil es nichts zu sagen wusste. Jedes Wort wäre falsch gewesen und jedes Wort zu viel!
Hauptmann Hütten und Leutnant Fritz sahen dem Schweigen der Schwestern hilflos zu. Hütten, mit seinem mangelnden Fingerspitzengefühl, versuchte vergeblich, das Gespenst des Schweigens zu verscheuchen, auch Leutnant Fritz gelang es nicht, der es immerhin sensibler anging. Aber die Vorfreude auf das Konzert, die er immer wieder äußerte, brachte nicht die erhoffte Wirkung. Aletta reagierte nur kurz und bündig mit einer freundlichen Höflichkeit, Insa sagte auch hier kein einziges Wort.
Dass die beiden sich bald in ihre Zimmer verzogen, war trotzdem ein erfreulicher Effekt. Insa musste sich nun keine Mühe geben, unauffällig auf den Speicher zu gelangen und nach Sönke zu sehen. Als sie in die Küche zurückkam, hielt sie das Opiumfläschchen in der Hand, als wollte sie Aletta fragen, in welcher Dosis Sönkes Schmerzbehandlung weiter erfolgen solle, aber sie sprach die Frage nicht aus. Und Aletta beschloss, auf ihre Körpersprache nicht zu reagieren. Sie fühlte sich nicht schuldig, wenn sie auch einsah, dass Insa nicht wissen konnte, was sie zusammen mit Jorit in dem Gartenhäuschen belauscht hatte. Insa hätte ihr vertrauen müssen! Eine Schwester vertraute der anderen! Aber das galt wohl nicht, wenn eine Schwester die andere hasste und sich wünschte, sie wäre nie geboren worden. Nein, es gab kein Vertrauen zwischen ihnen. Die kurze Zeit der Annäherunghatte keine Nähe gebracht. Sie würde für Insa eine Fremde bleiben, die ihr Leben zerstört hatte. Womit?, hätte Aletta auch hier fragen müssen. Aber diese Antwort kannte sie bereits: damit, dass sie zur Welt gekommen war.
Hinrika Oselich, die sich auf einen längeren Plausch mit Tee und Gebäck eingestellt hatte, als sie durch den Garten in ihre Küche gekommen war, hielt es auch nicht lange aus. Sie wurde bald von dem Schweigen der Schwestern vertrieben. Aber ihr konnte Aletta wenigstens eine Frage stellen: »Gibt es jemanden auf Sylt mit dem Namen Tjarko?«
Insa antwortete wie erwartet nicht, reagierte auch weder mit einem Kopfschütteln noch einem Schulterzucken. Hinrika jedoch, die glaubte, dass das Eis des Schweigens zu schmelzen begann, ließ sich gern auf die Frage ein, rätselte lange hin und her, weil es sich um einen alten friesischen Namen handelte, der in der jungen Generation nicht mehr gebräuchlich war, und erkundigte sich dann, um das Gespräch zu verlängern, was Aletta zu dieser Frage bewogen habe.
Sie hatte damit gerechnet und sich eine, wenn auch nicht besonders überzeugende, Begründung überlegt: »Im ›Grand Hotel‹ ist eine kleine Zigarrenkiste gefunden worden. Da war der Name Tjarko eingraviert.«
Insa sprach nur diesen einen Satz, und den nicht in Alettas, sondern in Hinrikas Gesicht: »Pfarrer Frerich heißt so!«
»Richtig!« Hinrika schlug sich vor die Stirn. »Aber ... der raucht doch gar nicht.«
Ihren Überlegungen, wer der Besitzer der Zigarrenkiste sein könnte, hörte Aletta nicht mehr zu. Ihr Schicksal schien sich mit einem Mal in diesem Namen zu bündeln. Tjarko! Also war ihr erster Eindruck doch richtig gewesen! Der Pfarrer, der sie »mein Kind« nannte! Der ihre Sünden vergeben hatte! Der ihr nichts nachtrug! Der täglich mit der Begründung ins Haus kam, sich um die beiden Schwestern kümmern zu wollen, die sich so schwertaten, sich wieder aneinander zu gewöhnen! Pfarrer Frerich,der so großmütig mit den Sündern umging! Warum? Weil er selber ein Sünder war!
Sie wurde erst wieder aufmerksam, als Hinrika das Gespräch auf Dirk Stobart brachte. »Glaubt ihr, dass der seinen Bruder umgebracht hat? Wie ich hörte, bestreitet er es. Aber zuzutrauen wäre es ihm. Der Dirk war ja schon immer so komisch. Und durch Kais Verschwinden hat er genau das gekriegt, was er wollte: die Zimmerei.« Hinrika sah
Weitere Kostenlose Bücher