Sturm über Sylt
und versteht, woran ich leide. Er weiß, wie schwer das alles für mich ist und wie gern ich manchmal die Wahrheit herausschreien möchte. Er fängt mich dann jedes Mal auf und sagt, dass man einen Weg, den man einmal eingeschlagen hat, nicht wieder zurückgehen kann. Ich weiß ja, dass er recht hat ...
Aletta drehte die Seite um, aber die Rückseite war nicht beschrieben. Die Fortsetzung dieser Worte war womöglich von Geert Lornsen getilgt worden. Diese Seite hatte er wohl übersehen. Sicherlich hatte er nicht gewollt, dass der Name Tjarko überliefert wurde. Tjarko! War das der Vorname ihres leiblichen Vaters?
Sie stellte sich einen Mann mit dem Namen Tjarko vor und ihre Mutter, die ihn küsste, sich von ihm berühren ließ, seine Hände auf ihrem Körper genoss, sich ihm hingab und dabei Mann und Kind vergaß. Es fiel ihr schwer, sich dieses Bild auszumalen, aber es hatte keinen Sinn, so zu tun, als könnte etwas Derartiges niemals geschehen sein. Es musste geschehen sein! Ihre Mutter, die am Ende eines Tages stets müde von der Hausarbeit gewesen war, die tagsüber oft über die schwere Arbeit geseufzt hatte, die abends zu erschöpft gewesen war, um zu ihrem Strickstrumpf zu greifen, hatte Zeit und Gelegenheit und Kraft gefunden, sich mit einem Tjarko zu treffen und mit ihm glücklich zu sein. Wenigstens für ein paar Stunden.
Aletta fühlte, wie sie den Kopf schüttelte. Ging es allen Kindernso, dass sie ein Bild von ihren Eltern hatten, das mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmte? Ihre Mutter hatte sich immer wohlanständig genannt, woran niemand gezweifelt hatte und wozu auch gehörte, dass im Hause Lornsen sämtliche Begriffe, die mit Geschlechtlichkeit und Fortpflanzung zusammenhingen, verpönt gewesen waren, so wie in jedem anderen Sylter Hause. Wörter wie Ehebruch, Leidenschaft und sexuelle Lust waren ganz sicherlich nie gefallen, und trotzdem musste es sie gegeben haben. Dass eine Frau eine Gebärmutter und Eierstöcke besaß, hatte Aletta von Weike erfahren, von dem Sinn der Monatsblutung ebenso, und von ihr war sie auch in die Geheimnisse des männlichen Körpers eingeweiht worden.
Weike! Sie war sich nun nicht mehr ganz sicher, ob es richtig gewesen war, ihr die Wahrheit zu sagen. Das würde vermutlich erst später zu erkennen sein, wenn Weike sich entweder mit der Wahrheit abgefunden, sie akzeptiert oder sogar als Erleichterung empfunden hatte. Letzteres hoffte Aletta inständig.
Weike hatte gespürt, dass etwas auf sie zukam, was größer war als das, was in den letzten Jahren zu ihrem Leben gehört hatte, in dem nicht nur die Freuden, sondern zum Glück auch die Probleme von Jahr zu Jahr kleiner geworden waren. Als sie sich gegenübersaßen, war es zu sehen, ohne dass Weike ein Wort gesprochen hatte. Ihr Gesicht war kleiner geworden, ihre Augen waren nicht mehr so groß, ihr ganzer Körper schien geschrumpft zu sein, und ihr Lachen war sogar gänzlich verschwunden. Ihre Aufmerksamkeit jedoch wuchs, als sie der Frau in die Augen blickte, die einmal kleiner gewesen war als sie und nun die Größe besaß, den Hoteldirektor darum zu bitten, für eine Weile ohne Weikes Arbeitskraft auszukommen.
»Es geht um deine Ehe«, hatte Aletta begonnen. »Um Boncke und sein damaliges Verhalten.«
Weiter kam sie nicht. Weike unterbrach sie, als wüsste sie schon, welche Fragen kommen würden, und als hätte sie die Antwortenseit Jahren parat. »Es war wohl meine Schuld«, sprudelte sie hervor, »ich habe ihn zu sehr bedrängt. Ich wünschte mir sehnlichst ein Kind, da habe ich vergessen, dass er ein paar Jahre jünger war als ich, dass er noch Zeit brauchte, bis er für die Vaterschaft bereit sein würde. Ich hätte mehr Geduld mit ihm haben müssen. Stattdessen habe ich ihn ständig dazu getrieben, zusätzlich Geld zu verdienen, damit ich für das Kind etwas zurücklegen konnte.«
Aletta schluckte. So weit wollte sie nicht gehen, Weike zu sagen, woher dieses Geld gekommen war, das Boncke angeblich als Nachtportier verdient hatte. »Warum suchst du die Schuld bei dir?«, fragte sie. »Ist das Scheitern deiner Ehe dann erträglicher?«
Darauf hatte Weike keine Antwort. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet, hatte sie sich selbst nie gestellt und wusste nun nichts zu sagen.
»Selbst wenn du recht hättest, wenn Boncke überfordert war und sich bedrängt fühlte, soll es dann auch deine Schuld sein, dass er sich einfach feige davongemacht hat?«
»Ich hätte merken müssen, dass er es nicht mehr
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