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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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in ihrem Nacken. Noch nie war er ohne Schmuck ausgekommen. Wenn sie sich in Wien oder während ihrer Konzertreisenmit dieser schlichten Friseur zufriedengegeben hatte, war der Knoten allermindestens mit einem kunstvoll gehäkelten Netz, mit Perlen oder mit Blättern geschmückt worden. Ludwig, der auch unter seiner Hausjacke stets ein einwandfrei geplättetes Hemd trug, hätte indigniert die Augenbrauen gehoben, wenn sie sich völlig schmucklos zu ihm an den Frühstückstisch gesetzt hätte. Es war gut, dass er ihre Schürze und ihre unpolierten Fingernägel nicht sehen musste. Lediglich einen Hauch von Puder und ein paar Tropfen ihres teuren Parfüms hatte sie sich gegönnt und dann den Rest ihrer Kosmetika entschlossen in eine Schublade verbannt.
    Sie lauschte auf die Stimmen, die aus dem Wohnzimmer heraufdrangen, öffnete die Tür zum Speicher und zog sie leise hinter sich ins Schloss. Dumpfer Geruch kam ihr entgegen, der Mief von Staub, alten Möbeln, morschen Textilien, dazu der scharfe Gestank von Mäuseexkrementen. Es raschelte, als sie am Kopf der Treppe angekommen war, dann aber war nur noch der leichte Wind zu hören und kurz darauf für ein paar Augenblicke die Räder einer Kutsche. Doch all diese Geräusche waren weit weg.
    Sönke war es gewesen, der sie auf die Korbtruhe aufmerksam gemacht hatte. »Sie muss geschützt werden.« Er hatte auf den Boden vor der Truhe gezeigt, der voller Papierkrümel war. »Lagern dort wichtige Papiere? Die Mäuse haben bald alles gefressen.«
    Vorsichtig öffnete Aletta den Deckel der Truhe und nahm einige Blätter heraus. Sie zerfielen in ihren Händen, kaum dass sie berührt worden waren. Aber dann folgte ein Stapel, der unversehrt war, nur an den Ecken und Kanten brüchig und zerfranst. Es waren die Grundrisszeichnungen des Hauses, Berechnungen, die ein Architekt oder Statiker angestellt haben mochte, Briefe mit dem Kopf der Stadt Westerland, in dem die Genehmigung zum Hausbau erteilt wurde. Sie stieß auf Korrespondenzen, die ihre Mutter mit ihrer Großmutter in Hamburg geführt hatte, auch auf Briefe von Mutters Schwester, die früh gestorben war,und fand Blätter mit Gedichten, die ein Kind mit steiler Handschrift und vielen Fehlern zu Papier gebracht hatte. Unzählige kleine Erinnerungen, die am Ende ein ganzes Leben ausmachten.
    Und dann fand sie ein in Leinen gebundenes Buch. Anscheinend ein Tagebuch, denn es war mit einem Schloss gesichert. Vorsichtig durchstöberte sie den Rest der Truhe, aber einen Schlüssel zu dem Buch fand sie nicht. Zweifelnd wog sie es in ihren Händen. Ob es sich um das Tagebuch ihrer Mutter handelte? Wurde sie dort zu dem Geheimnis geführt, das die Mutter ihr anvertrauen wollte?
    Sie hörte ein Geräusch auf dem Flur und schloss eilig den Deckel der Truhe. Das Buch schob sie in die Tasche ihrer Schürze. Dann machte sie sich an den Abstieg und blieb lauschend vor der Tür stehen, ehe sie sie vorsichtig öffnete. Der Flur war leer, aber hinter Insas Tür hörte sie Geräusche.
    Rasch ging Aletta in ihr Zimmer und versteckte das Buch unter ihrer Matratze. Als sie sich aufrichtete, fiel ihr Blick in den Spiegel. Vor ihm hatte sie sich als Kind oft gedreht und als größeres Mädchen Posen eingenommen, die ihr bühnenwirksam erschienen waren. Manchmal, wenn sie darauf vertrauen durfte, nicht gehört zu werden, hatte sie vor diesem Spiegel sogar gesungen und dabei an alles gedacht, was sie von Vera Etzold gelernt hatte.
    Sie summte, ließ ihre Stimme die Tonleiter hinauflaufen und wieder herab, dann löste sie die Schürze und warf sie zur Seite. Ludwig hätte sie niemals in einer Schürze sehen dürfen. Wo immer sie sich aufhielten, hatte er darauf bestanden, dass Dienstboten um sie herum waren, die die alltäglichen Arbeiten verrichteten. Aletta wäre es oft lieber gewesen, mit Ludwig allein zu sein, und hätte dafür gerne in Kauf genommen, den Kaffee selber zu kochen und eigenhändig einen Imbiss vorzubereiten, ohne nach dem Mädchen zu klingeln. Aber für Ludwig, der sein ganzes Leben mit Personal verbracht hatte, kam das nicht in Frage. Wie würde ein Mann wie er den Krieg überstehen? Es wardas erste Mal, dass ihre Gedanken über die Angst vor Verwundung, Verstümmelung und den Tod hinausgingen. Würde Ludwig, wenn er Hunger und Durst, Unrat und Elend, bittere Not und Todesangst überlebt hatte, noch derselbe sein?
    »Du wirst wieder singen«, hatte er beteuert.
    Aber was war mit ihm? Würde er wieder hinter ihr stehen, sie in ihrer

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