Sturm über Sylt
Garderobe erwarten, sie vor aufdringlichen Verehrern schützen und sie trösten können, wenn ein Kritiker sie ungerecht beurteilt hatte? Die Sehnsucht nach ihm und die Angst um ihn lähmten sie für Augenblicke, und nur mit Mühe fand sie zurück in die Realität, in der es weitergehen musste, in der sie zu bewahren hatte, was für Ludwig zählte, und alles tun musste, damit später aus der Vergangenheit wieder eine Zukunft wurde.
Sie strich sich über die Haare, steckte eine Strähne fest, glättete den Rock ihres Kleides und band die Schürze ab. Dann ging sie ins Erdgeschoss und betrat das Wohnzimmer, wo noch immer die drei Ehepaare saßen, die am nächsten Tag mit ihren Kindern die Insel verlassen mussten. Sie redeten leise miteinander, brachen die Gespräche aber sofort ab, als Aletta hereinkam.
Sie sah sich um. Das Wohnzimmer betrat sie zum ersten Mal, seit es Aufenthaltsraum genannt wurde. Der alte Vitrinenschrank war noch an seinem Platz, auch die Standuhr, die gerade in diesem Augenblick die volle Stunde schlug. Die breite Kommode war unter das Fenster gerückt worden, das neue Gardinen erhalten hatte. Aber das Sofa, in das man so tief hineinsank, dass es Mühe machte, sich wieder daraus zu erheben, fehlte, ebenso die beiden Lehnstühle, auf denen ihre Eltern den Abend verbracht hatten, weil ihnen das Sofa zu unbequem geworden war. Stattdessen waren nun vier kleine Tische im Zimmer verteilt worden, an denen zierliche Stühle standen. Aus dem Wohnzimmer war so etwas wie ein Kaffeehaus geworden, das sein Privates dafür hergeben musste.
»Endlich!«, rief ein dicker Mann, sprang auf und kam ihr entgegen,um sie zum Tisch zu führen. »Wir wünschen uns die ganze Zeit, dass wir Sie endlich kennenlernen dürfen.«
Aletta wurde mit Fragen bestürmt, die sie knapp, aber freundlich beantwortete. Und dann kam die Bitte, auf die sie gewartet hatte: »Ein Lied! Bitte singen Sie uns ein Lied! Vielleicht wird es das letzte Schöne sein, was wir erleben.«
Aletta ließ sich nicht lange bitten. Die Zeit war gekommen! Sie musste es wagen, das Leben weiterzuführen, ohne Ludwigs Nähe zu spüren. Ein Versuch sollte es sein! Das Risiko, ihre Stimme erklingen zu lassen, obwohl Ludwig weit weg war, musste sie einfach eingehen. Wenn er sagte: »Du wirst wieder singen«, dann durfte sie nicht aufhören damit, bis er zu ihr zurückkehrte.
Sie gab ihr erstes Konzert ohne Ludwig. In Gedanken bei ihm, nur ihm zugewandt, mit angefülltem Herzen, in dem nur er Platz hatte, nur die Frage, wo er sein mochte, nur die Hoffnung, dass er seelisch und körperlich unversehrt bleiben möge, und die Ungewissheit. Sie sang zwei Schubertlieder »Gretchen am Spinnrade« und »Du bist die Ruh«. Und dann das Lied, das im Hause Lornsen immer dann gesungen worden war, wenn ein besonderer Tag zu Ende ging: »Guten Abend, gut’ Nacht ...«
Sie sang über die Köpfe ihrer Zuhörer hinweg, die in einem dunklen Saal, hinter dem grellen Licht der Bühnenbeleuchtung nie zu sehen waren, in das dunkle Quadrat des Fensters hinein, so, wie sie in die Dunkelheit des Zuschauerraums sang, und dann blitzte etwas im Garten auf, wie manchmal ein Schmuckstück im Schein einer sich öffnenden Tür aufblitzte. Das Mondlicht, vor dem eine Wolke zerrissen war, hatte ein weißes Taschentuch zum Leuchten gebracht.
»Schau im Traum ’s Paradies ...«
Sie hielt sich nicht lange mit der Anerkennung ihrer sechs Zuhörer auf, ließ keine Huldigungen zu, bedankte sich nur artig für den Applaus, war aber zu keiner Zugabe bereit. Sie murmelte gute Wünsche für die schwere Zeit, die vor ihnen lag, unddrückte die Hoffnung aus, dass man sich bald gesund wiedersehen möge, dann lief sie in die Küche und von dort in den Garten.
Insa stand noch immer da, an den Nussbaum gelehnt, und als Aletta auf sie zutrat, bekam sie bestätigt, dass ihre Schwester weinte. Sie hatte Insa nie zuvor weinen sehen ...
Wenn ich wenigstens darüber sprechen könnte! Aber Geert will kein Wort davon hören, und er hat mir verboten, mit Insa darüber zu reden. Geert glaubt, dass man irgendwann vergisst, worüber nicht geredet wird. So ein Unsinn! Er hat mir sogar verboten, darüber zu schreiben. Dieses Tagebuch hat er gefunden und die Seiten herausgerissen, in denen ich darüber geschrieben habe. Ob ich mir jemals überlegt hätte, was geschehen würde, wenn nach unserem Tod jemand dieses Buch fände? Er will, dass wir alles mit ins Grab nehmen. Niemand soll etwas wissen. Und dass Insa darüber
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