Sturm über Sylt
ganz spontan gekommen. Sie brauchte Hilfe dabei, das Ehebett aus dem Zimmer herauszuschaffen und das alte Bett aus ihrer kleinen Kammer ins Schlafzimmer zu bringen.
Dirk war sofort einverstanden gewesen. »Sönke kann ein paar Stunden bei dir ... ich meine, er kann bei Ihnen arbeiten, gnädige Frau. Es sind ja fast alle Aufträge zurückgezogen worden, seit der Krieg begonnen hat.«
Sönke war von so argloser Freundlichkeit gewesen, dass es ihr beinahe wehgetan hatte. Aber er konnte ja nicht ahnen, dass sie etwas verband. Und ihm war zum Glück nicht aufgefallen, dass sie ihn während der Arbeit heimlich beobachtete. Der Versuch,ihn nach seinem Leben bei Dirk Stobart auszufragen, war jedoch gescheitert. Sönke hatte seinen Chef einen guten Mann genannt, bei dem er sich wohlfühle, und mehr war nicht aus ihm herauszubekommen gewesen.
Aletta betrat das Zimmer und sah sich um, als wollte sie herausfinden, wieweit der Raum noch an ihre Eltern erinnerte. Tatsächlich war der Kamillenduft noch da, der schwache Geruch von Krankheit, Siechtum und Tod, der bitter und gleichzeitig süßlich war, einerseits abstoßend, aber auch tröstlich. Ja, sie fühlte sich heimisch in diesem Raum. Sobald Ludwig zurück war, würde sie sich natürlich wieder in dem Leben heimisch fühlen, das sie mit ihm geführt hatte, aber sie merkte, dass es ihr gelingen konnte, zehn Jahre Erinnerung zu überwinden. Und das Schlafzimmer ihrer Eltern würde ein Ort werden, der besser zu ihr passte als das »Miramar«.
Sönke hatte den großen Kleiderschrank der Eltern auf den Speicher gewuchtet und stattdessen einen kleineren Schrank heruntergetragen, der für Alettas Garderobe ausreichte. Ihre Kleider, obenauf das dunkelgrüne Seidenkleid, das sie während des Konzertes getragen hatte, waren in einer mit Leinen ausgeschlagenen Kiste verstaut worden, ihre Spazierstöcke und die großen Hüte in einem ausgedienten Wäschekorb. Für all das war auf Sylt kein Platz mehr. Nur der fliederfarbene Seidenschal sollte als Stück ihres alten Lebens bei ihr bleiben. Und ihre seidene Unterwäsche! Niemand würde sie zu sehen bekommen, Insa am allerwenigsten. Heimlich wollte sie die zarten Teile waschen und trocknen, aber sie würden, wie der Seidenschal, der Haken sein, mit dem ihr altes Leben sich ans neue klammern ließ.
Zwei dunkle Kleider ihrer Mutter hatte sie in ihrem Zimmer behalten, die gut für die Arbeit in Haus und Garten waren. Sie stellte fest, dass sie auch hier anders empfand als Insa. Während Aletta sich ihrer Mutter näher fühlte, wenn sie ihre Kleidung trug, war Insa blass geworden, als sie sah, wie ihre Schwester sich die Schürze der Mutter umband, und hatte sich mit Tränen inden Augen abgewandt. Aber nur kurz, dann war wieder die praktische, resolute Insa zum Vorschein gekommen. »Du bist größer und schlanker als Mutter.«
Aletta hatte genickt. »Ich kann nicht nähen, sonst würde ich die Kleider in der Taille enger machen und den Saum herauslassen.«
»Ich könnte Frauke Bescheid sagen. Frauke Lützen! Du erinnerst dich?«
Aletta dachte nach, aber sie brachte mit diesem Namen kein Gesicht in Verbindung. Fieberhaft überlegte sie, denn sie wusste mittlerweile, wie Insa reagierte, wenn sich herausstellte, dass von Alettas Leben auf Sylt so manches in Wien in Vergessenheit geraten war.
»Sie wohnt außerhalb«, erläuterte Insa. »Am Ende der Steinmannstraße, weit hinter der Zimmerei Stobart. Sie hat die kleine Nähwerkstatt ihrer Mutter übernommen.« Und anzüglich hatte sie ergänzt: »Aber so was Unwichtiges hast du dir natürlich nicht gemerkt.«
Aletta trat aus dem Zimmer und sah an sich herab, ehe sie die niedrige Tür gegenüber der Treppe öffnete, hinter der eine Stiege zum Dachboden hinaufführte. Sobald Frauke Lützen die Kleidung ihrer Mutter geändert hatte, würde sie hier auf Sylt nichts anderes tragen. Ihr Kleid, das in Wien ein einfach geschnittenes Hauskleid aus einem anspruchslosen Stoff gewesen war, passte nicht hierher. Die Schürze, die sie vorgebunden hatte, um es zu schützen, machte den Kontrast nur noch schärfer. Auf Sylt hatten ihre Kleider aus Wien nichts zu suchen, für ein paar Monate würde die Kleidung ihrer Mutter für sie richtig sein. Dann musste der Krieg zu Ende sein. Ludwig hatte gesagt, er würde nicht lange dauern. Und im Krieg mussten Opfer gebracht werden! Da war es nur recht und billig, dass sie auf Mode, Zierrat, kunstvolle Frisuren und Schminke verzichtete. Sie tastete nach dem Knoten
Weitere Kostenlose Bücher