Sturm über Sylt
nicht reden wird, ist so gut wie sicher.
Aletta ließ das Buch sinken und betrachtete schuldbewusst den aufgebrochenen Verschluss. War es richtig gewesen, sich der geheimen Gedanken ihrer Mutter zu bemächtigen? Hatte sie sich eines schweren Vertrauensbruchs schuldig gemacht? Oder hatte sie, nachdem ihre Mutter gestorben war, ein Anrecht darauf, zu erfahren, was diese ihr auf dem Sterbebett hatte sagen wollen?
Aletta blätterte durch das Tagebuch. Tatsächlich! Die Stellen, wo ihr Vater einige Seiten herausgerissen hatte, waren gut zu erkennen. Was mochte dort gestanden haben? Warum hatte ihr Vater nicht gewollt, dass es ans Tageslicht kam?
Sie blätterte an den Anfang zurück und vertiefte sich erneut in die schmale, krakelige Schrift ihrer Mutter, die nur schwer zu entziffern war.
Die Reise war beschwerlich. Es regnete, und es stürmte, und wir waren alle sehr krank. Insa am meisten. Geert hat uns bis nachMunkmarsch begleitet, und dann habe ich ihn noch lange auf dem Steg sehen können. Er wusste ...
Die folgende Seite fehlte. Aletta konnte erkennen, dass sich dadurch auch andere Seiten gelöst haben mussten, die dann womöglich aus dem Buch herausgefallen und in die Tiefen der Truhe gesunken waren. So war aus diesem Tagebuch ein mageres Bändchen geworden, um das Wichtigste beraubt.
Aletta hörte ein Geräusch vor der Zimmertür, steckte das Buch unter die Bettdecke und stand hastig auf. Schon stand Insa auf der Schwelle, zögerte aber, den Raum zu betreten. Sie versuchte, von der Tür aus zu erkennen, was sich geändert hatte. »Dirk Stobart ist gekommen. Er fragt, ob du Sönke noch länger benötigst.«
Aletta schüttelte den Kopf. »Sollte es noch etwas Schweres zu transportieren geben, sage ich in der Zimmerei Bescheid.« Sie sah ihre Schwester besorgt an. »Oder will er Sönke kündigen, wenn er keine Arbeit mehr für ihn hat? Das wäre schrecklich für den Jungen.«
Aber Insa winkte ab, zog die Mundwinkel herab und die Stirn hoch. »Dirk braucht Sönke. Dem wird er niemals kündigen. Aber wenn Sönke eingezogen wird, muss er wohl ohne ihn auskommen. Dirk selbst wird vielleicht davonkommen, als Erbe einer großen Zimmerei. Das sähe ihm ähnlich ...«
Sie wollte wieder in die Küche gehen, aber Aletta hielt sie zurück. »Warum magst du Dirk Stobart nicht?«
»Magst du ihn etwa?«
Aletta zögerte, antwortete dann aber: »Nein, ich mag ihn auch nicht.«
Insa warf einen Blick zur Treppe und dämpfte ihre Stimme. »Du weißt doch, dass sein Bruder vor Jahren verschollen ist. Kai sollte eigentlich die Zimmerei bekommen, aber dann verschwand er von einem Tag auf den anderen. Es gehen immer noch Gerüchte um, dass Dirk seinen Bruder auf dem Gewissen hat, um an die Zimmerei zu kommen.«
Aletta sah ihre Schwester erschrocken an. »Glaubst du das auch?«
Insas Gesicht verschloss sich mit einem Mal, aus dem kurzen Zusammengehörigkeitsgefühl wurde von einer Sekunde auf die andere eisige Ablehnung. Wütend stieg sie die Treppe hinab, als ärgerte sie sich darüber, Neugier und Sensationslust mit Aletta geteilt zu haben. »Was interessierst du dich plötzlich für Sylter Schicksale? Glaubst du, damit kannst du wieder eine von uns werden?« Sie war schon auf der letzten Stufe angekommen, als sie zurückrief: »Aber das kannst du nicht mehr. Dazu ist es zu spät.«
Aletta schaffte es nicht, ihrer Schwester unverzüglich zu folgen. Erst musste sie die Abfuhr hinunterschlucken. Warum nur geschah es immer wieder, dass ihre Schwester sie zurückwies und ihr zu verstehen gab, dass sie nicht zu ihr gehörte? Niemals hatte Aletta ein tiefes Gefühl mit Insa geteilt. Und am vergangenen Abend hatte sie einsehen müssen, dass sich daran nichts geändert hatte. Auch die Kriegsgefahr, der Tod der Mutter, nicht einmal Alettas letztes Konzert vor den sechs Feriengästen hatte die Schwestern zueinandergeführt. Als sie auf Insa zugetreten war, wurde dieser klar, dass die Dunkelheit sie nicht geschützt, dass Aletta ihre Tränen bemerkt hatte. Die Hoffnung, dass das letzte »Guten Abend, gut’ Nacht« endlich das erreicht hatte, was das Konzert im Alten Kursaal hatte bewirken sollen, war in sich zusammengefallen, als sie Insas Zorn gesehen hatte. Wie ein Blitz war er in ihre Tränen gefahren und in ein Gefühl eingeschlagen, von dem Aletta nichts erfuhr. Für einen Moment sogar hatte sie befürchtet, Insa könne sie schlagen, so heftig war der Aufruhr gewesen, der aus ihren Augen sprühte. Aber dann hatte sie sich doch
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