Sturm über Sylt
nur wortlos umgedreht und war gegangen. Und Aletta war unter dem Baum stehen geblieben und hatte ihr nachgesehen. Was Insa in dem dunklen Garten, vor dem erleuchteten Wohnzimmerfenster, hinter dem ihre Schwester sang, bewegt hatte, würde sie wohl niemals erfahren.
Aletta betrat nach Insa die Küche, in der Dirk vor einer TasseTee hockte. Er sprang auf, als er Aletta sah, und verbeugte sich übertrieben höflich. »Ich wollte nur fragen ...«
»Insa hat es mir ausgerichtet«, unterbrach Aletta ihn kühl. »Wenn ich Sönke noch einmal brauche, gebe ich Bescheid.«
Hastig trank Dirk seine Tasse aus und erhob sich. »Dann will ich nicht weiter stören.« Er maß Aletta mit einem seiner Blicke, mit denen sein gutgeschnittenes Gesicht für wenige Augenblicke unsympathisch wurde. »Ich hoffe, der Gatte ist wohlauf?«
Ausgerechnet in diesem Augenblick erschien der Postbote und brachte einen Brief. Er kam aus Wien! Aletta riss ihn an sich und verließ die Küche ohne einen Gruß. Sie lief bis in den hinteren Teil des Gartens, der den Feriengästen zur Verfügung gestanden hatte, und setzte sich dort in einen Strandkorb. Mit zitternden Händen öffnete sie den Umschlag, dann ließ sie sich zurücksinken und begann zu lesen ...
Meine geliebte Aletta! Wenn Du diesen Brief bekommst, bin ich schon auf dem Weg zur Front. Ich gehöre dem 97. Infanterieregiment an. Nach einer Parade in Triest werden wir an die serbische Front marschieren. Hier herrscht überall schreckliche Hektik, ich kann nicht einmal sicher sein, dass Dich mein Brief erreicht. In dem ganzen Durcheinander kommt es mir sogar eher unwahrscheinlich vor. Trotzdem hoffe ich es natürlich. Und außerdem hoffe ich, dass die österreichische Armee sich nicht beweisen muss. Sie ist die schwächste Europas. Ich sehe wirklich schwarz. Die Offiziere sind entweder Deutsche oder Ungarn, die Befehlssprache ist Deutsch. Aber die meisten einfachen Soldaten sind der deutschen Sprache gar nicht mächtig und verstehen die Befehle nicht. Gestern habe ich erfahren, dass die Russen viermal so viele Artilleriegranaten besitzen wie wir. Wie soll das gehen? Ich fürchte auch, dass es sehr bald zu Versorgungsschwierigkeiten kommen wird. Es war keine Zeit, um den Krieg vorzubereiten und die Ausrüstungen auf Kriegstauglichkeit zu überprüfen. Es sind nicht mal genug Uniformen da. Manche ziehen in ihrer Zivilkleidung in den Krieg. Aber nicht nur, was die Ausstattungangeht, ist die Armee nicht auf dem neuesten Stand, es gibt auch kein strategisch-taktisches Konzept. Standhaft bis in den Tod – so nennt von Hötzendorf sein Konzept. Hoffen wir, dass es so weit nicht kommen wird. Standhaft, ja! Aber ich will überleben, und ich verspreche Dir, dass ich alles tun werde, um gesund zu Dir zurückzukehren. Ich hoffe, dass ich Dir bald wieder schreiben kann. Versuche, mit meiner Schwester Kontakt zu halten. Sie ist meine einzige Verwandte. Wenn mir etwas zustoßen sollte, wird man sie informieren. Sei inniglich umarmt, meine Geliebte. Und lass uns darauf vertrauen, dass wir uns wiedersehen. Du bist meine große Liebe, die Liebe meines Lebens! Und jetzt tut es mir leid, dass ich nicht heiraten wollte. Plötzlich reicht mir die Gewissheit nicht mehr, dass wir zusammengehören. Jetzt hätte ich gerne eine Heiratsurkunde und einen Ring am Finger und wollte, Du trügest meinen Namen. Richte Dich darauf ein, dass ich Dir einen Antrag mache, sobald ich zurück bin. Und wenn Du Dich fragst, wie Du mir während dieses Krieges besonders nah sein kannst, dann sing. Vergiss nie, dass Dir eine wunderschöne Stimme geschenkt wurde, der Du Dich verpflichtet fühlen solltest. Sing, wenn Du an mich denkst! Sing, wenn Du mir nah bist! Ich glaube, ich werde es hören können. In Liebe – Dein Ludwig.
Dass sie weinte, merkte Aletta erst, als sie den Brief zusammenfaltete und in ihren Ausschnitt steckte. Nun war er schon auf dem Weg zu irgendeiner Front, musste sein Leben aufs Spiel setzen, Entbehrungen ertragen, für etwas kämpfen, was er selbst nicht wollte. Dann aber lächelte sie leicht. Er würde sie heiraten, wenn er zurückkehrte! Ein großes Fest musste es werden. Sie würde Ludwigs Frau sein. Niemand wusste, wie sehr sie sich das gewünscht hatte. Und ausgerechnet dieser hässliche, widerwärtige Krieg würde ihr den Wunsch erfüllen!
Aletta stand auf und fühlte sich mit einem Mal so leicht wie nach einem besonders erfolgreichen Konzert. Beschwingt ging sie ins Haus zurück. Es wurde Zeit, Ludwigs
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