Sturm über Sylt
das den ganzen Himmel zu erfüllen schien, als käme es direkt aus den Wolken. Im Hause wurde es unruhig. Zwei Familien hatten die Pension Lornsen zwar verlassen, drei andere jedoch waren der Meinung gewesen, dass es nicht nötig sei, vordem drohenden Krieg zu fliehen. Wie viele andere Feriengäste auch, die sich nach wie vor auf Sylt aufhielten und versuchten, den Krieg zu ignorieren.
Es klopfte an der Küchentür. Obwohl weder Insa noch Aletta zum Eintreten aufforderten, öffnete sich die Tür leise, und eine Frau steckte vorsichtig den Kopf herein. »Was bedeutet das Glockengeläut?«
Insa hob den Kopf, während Aletta ihre Körperhaltung nicht veränderte. »Der Krieg hat begonnen.«
»Und nun?«
Insa zuckte die Schultern. »Wir werden sehen ...«
Diese Auskunft schien der Frau zu reichen. Sie zog sich wieder zurück. Man hörte sie draußen flüstern und dann die energische Stimme eines Mannes: »Heute geht kein Schiff mehr. Wir können frühestens morgen aufbrechen. Ich schlage jedoch vor, wir warten erst mal ab.«
Eine andere Männerstimme mischte sich ein. »Das Wetter ist gut, am Strand ist es angenehm ruhig, weil schon viele Gäste abgereist sind. Warum sollen wir nicht hier bleiben? Der Krieg findet woanders statt.«
Insa und Aletta sahen sich an, aber keine sprach ein Wort. Wieder versanken sie in Schweigen, bis Insa sich schließlich resolut erhob. »Solange die Feriengäste da sind, müssen sie versorgt werden«, sagte sie. »Hilf mir! Arbeit lenkt ab.«
Aletta stand auf und ging zu ihrer Schwester, die das Brot aus dem Schrank holte und Aletta das Messer hinschob, damit sie mit dem Schneiden begann. »Ich habe noch nichts von Ludwig gehört.«
Insa holte Wurst und Schmalz hervor und setzte Wasser auf, damit sie Tee für die Gäste kochen konnte. »Du hättest ihn eben heiraten sollen. So wirst du nicht mal eine Nachricht erhalten, wenn er fällt.«
Aletta schloss fest die Augen und damit den Schmerz in sich ein, den diese Bemerkung verursachte. Sie wollte ihrer Schwesternicht zeigen, wie verletzt sie war. Schon als Kind hatte sie es so gehalten und Insa nicht merken lassen, dass sie sich von ihr zurückgewiesen fühlte.
»Vermisst du Mutter sehr?«, fragte sie, während sie mit dem Brotschneiden begann.
»Ich habe bis zu ihrem Tod nie einen Tag ohne sie verbracht«, antwortete Insa. »Im Gegensatz zu dir ...«
»In der ersten Zeit in Kassel habe ich oft darauf gehofft, dass ihr mich besucht. Ich dachte, ihr würdet wissen wollen, wie es mir geht.«
»Hast du auch mal daran gedacht, was wir gehofft haben?«
»Ihr wolltet, dass ich zurückkomme, mir eine Karriere als Sängerin aus dem Kopf schlage und stattdessen heirate und Kinder kriege.«
»Vor allem wäre es uns lieb gewesen, wenn du uns nicht belogen hättest.«
»Ich hätte es nicht nötig gehabt, zu lügen, wenn ihr mir eine Chance gegeben hättet. Was war so verwerflich daran, aus meinem Talent etwas zu machen?«
Darauf antwortete Insa nicht. Schweigend arbeiteten die Schwestern, so lange, bis Aletta Insas Zurückweisung ein weiteres Mal hinuntergeschluckt hatte. »Wo mag Ludwig sein?«
Insas Schweigen war so voller Ablehnung, dass es die ganze Küche füllte. Dann erst antwortete sie: »Er hat sicherlich genug damit zu tun, seine Reichtümer in Sicherheit zu bringen.«
Aletta überhörte den Sarkasmus. »Wenn ich geahnt hätte, dass ich nicht nach Wien zurückkomme, hätte ich so viel Geld wie möglich nach Sylt gebracht. Es wird schwierig werden, wenn die Feriengäste wegbleiben.«
Insas unausgesprochener Vorwurf wurde so unangenehm, dass Aletta das Fenster öffnete. »Mutter hat manchmal zwei alte Strickjacken aufgeribbelt, um aus der Wolle eine neue Jacke für Vater zu stricken.«
»Ich hätte euch gerne finanziell unterstützt.«
»Wir hätten dein Geld nicht haben wollen.«
»Siehst du? Das wusste ich.«
Aletta griff nach dem Schmalztopf, um die Brotscheiben zu bestreichen. »Weißt du wirklich nicht, was Mutter mir vor ihrem Tod anvertrauen wollte?«
Das Wasser begann zu kochen. Insa drehte Aletta den Rücken zu, während sie den Tee aufgoss. »Hör auf, mich zu fragen. Es gab kein Geheimnis. Ich wüsste davon.«
Insa gefiel es, dass ihr Gespräch durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen wurde. Der Pfarrer pflegte nicht zu warten, bis ihm geöffnet wurde, sondern stand schon Augenblicke später in der Küche. »Ich wollte mal nach dem Rechten sehen.« Er versuchte es mit einem jovialen Lachen, verstummte aber
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