Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
Vom Netzwerk:
Tür weisen und sie in ihr altes Leben zurückschicken. Was Insa auf Sylt tat, was sie plante, dachte, fühlte und auch, was sie zu verbergen hatte, durfte Aletta nicht kümmern.
    Sie benutzte den Gartentisch zum Schneiden des Kohls. Die frische Luft wollte sie genießen, sooft es ging, ehe der kühle Herbst begann. Wie würde das Weihnachtsfest werden? Ob derKrieg dann zu Ende war und Ludwig gesund zurück? Sie beide wieder in Wien unter dem riesigen Weihnachtsbaum, für den das Wohnzimmer ihrer Wohnung groß genug war? Sie hatten immer viele Gäste gehabt, waren selbst zu Weihnachtsgesellschaften eingeladen worden, und Aletta hatte nach den Festtagen manchmal erschrocken festgestellt, dass sie kein einziges Mal an ihre Eltern und Insa gedacht hatte, an deren bescheidenes Weihnachtsfest auf Sylt, an die kleine Tanne auf dem niedrigen Tisch, der dann vors Wohnzimmerfenster gerückt wurde.
    Sie ließ die Sonne auf ihren Rücken brennen und bildete sich ein, sie täte ihr gut, ihre Wärme könnte die Starre auflösen, unter der sie sich nicht aufrichten konnte. Sie zwang sich schließlich dazu, ließ das Messer sinken, nahm die Haltung ein, in der sie ihre Stütze aufbauen konnte, aber das Unbehagen blieb. Sie versuchte es mit ihren Stimmübungen, doch das flaue Gefühl ließ sich nicht wegsummen und keiner Tonleiter aufhalsen. Es blieb! Und schließlich wusste sie, was sie quälte, was ihr die Freude an der Sonne, der leichten Brise und an dem Geschrei der Möwen nahm: Sie schämte sich. Sie hatte all das, was sie sich selbst auf keinen Fall zugestehen wollte, am Morgen getan. Sie hatte Insas Gespräch mit Reik Martensen belauscht.
    Aletta hatte nach ihrer Schwester gerufen, hatte sie im ganzen Haus gesucht und war dann überrascht gewesen, als sie in der Diele neben Reik Martensen stand, ohne dass Aletta sich erklären konnte, woher sie gekommen war. Auf ihre Frage hatte Insa nur abgewinkt und war mit Reik in die Küche gegangen, wo sie ihm einen Tee anbot. Neben der Tür, die in den Küchengarten führte, hatte Aletta sich an die Erde gekauert, sich für ihre Neugier geschämt, sich vorgestellt, wie entsetzlich peinlich es sein würde, wenn sie erwischt wurde, und es doch nicht fertiggebracht, aufzustehen und zu gehen. Was Insa mit Reik verband, hatte womöglich auch mit ihrem Schicksal zu tun. Das sagte sie sich immer wieder und schaffte es damit, neben der Küchentür hocken zu bleiben und das Unrecht zu ertragen, das sie beging.
    »Hat dir unsere Liebe wirklich nichts bedeutet, Insa? Wir waren uns unserer Gefühle so sicher! Warum war das plötzlich vorbei?«
    Aletta hörte, wie der Kessel auf dem Herd verschoben wurde, zwei, drei leichte Schritte, das Knarren der Schranktür, leises Klirren, als würde Geschirr herausgenommen, dann das Schließen der Tür. Insa antwortete nicht.
    »Schon Wochen bevor du mit deiner Mutter nach Hamburg gefahren bist, hatte sich alles verändert. Warum? Was war geschehen? Ich habe mich tausendmal gefragt, was ich falsch gemacht habe.«
    Aletta hörte das metallische Geräusch der Keksdose, das leichte Saugen, als der Deckel angehoben wurde, das Klappern, als Insa ihn kopfüber auf den Tisch legte und die Dose hineinstellte, deren Boden genau in die Innenseite des Deckels passte. Noch immer sprach sie kein Wort.
    »Dein Vater hat mir gesagt, du hättest keine Gefühle mehr für mich. Warum konntest du mir das nicht selber sagen?«
    Nun endlich war Insas Stimme zu vernehmen: »So war es eben. Ja, ich hätte dir wohl schreiben und dir alles erklären sollen. Aber damals ... fand ich das nicht so wichtig.« Und dann heftig: »Ich war fünfzehn, Reik!«
    »Ich war auch erst sechzehn«, kam es ebenso heftig zurück. »Warum darf man von einem jungen Menschen keine Aufrichtigkeit erwarten? Eine Erklärung wäre das mindeste gewesen!«
    Wieder verstummte Insa, und diesmal stimmte Reik für eine Weile in ihr Schweigen ein, ehe er schließlich fragte: »Kann es sein, dass du froh warst, mich nicht mehr auf Sylt anzutreffen, als du mit deiner Mutter zurückgekommen bist?«
    Insas Stimme klang nun so ausdruckslos, als ginge es nicht um ihre eigene Vergangenheit, sondern um das Leben einer Fremden. »Für mich war die Sache abgeschlossen, als ich zurückkam. Da passte es ganz gut, dass du nicht mehr da warst.«
    »Es passte ganz gut?«
    Aletta konnte verstehen, dass Reik fassungslos über diese lapidare Antwort war. Und sie erkannte, dass das Gespräch nicht mehr lange dauern würde. Reik

Weitere Kostenlose Bücher