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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Pauly
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ihr erstes Kind auf die Seite legte.
    »Komm! Hilf mir!«
    Dirk warf Boncke Broders einen Blick zu und schien zu begreifen, dass er von ihm keine Hilfe erwarten konnte. Er hatte recht! Boncke duckte sich weg, als Aletta herankam, und ergriff die Flucht. Wie von Furien gehetzt jagte er über die Gräber und war Augenblicke später nicht mehr zu sehen.
    »Los! Nimm seine Füße!«
    Dirk beugte sich über seinen Bruder, vergewisserte sich erneut, dass kein Leben mehr in ihm war, dann griff er nach dessen Handgelenken und forderte Aletta erneut auf: »Nimm seine Füße!«
    Als sie den Kopf schüttelte, fluchte er so laut und gottlos, dass Aletta mit einem Blitz rechnete, der direkt aus dem Himmel auf sie niederfahren würde.
    »Tu, was ich dir sage! Sonst ...«
    »Ich tue nie wieder, was du sagst«, antwortete Aletta. »Und du wirst schweigen, das weiß ich jetzt. Wenn du verrätst, dass ich gestohlen habe, werden alle erfahren, dass du schwul bist.« Sie hatte das Wort genauso ausgesprochen wie Weike, verächtlich und kränkend.
    Dirk warf ihr nur einen kurzen Blick zu und mühte sich wortlos ab, seinen Bruder in das Familiengrab der Mügges zu stoßen. Doch es wollte ihm nicht gelingen, ihn über den Erdhaufen zu bugsieren, den die Totengräber neben dem offenen Grab angehäuft hatten.
    Aletta starrte ihn fassungslos an. »Kai soll morgen mit dem alten Mügge beerdigt werden?«
    Dirk stöhnte leise. »Schlaues Kind. Da wird ihn niemand finden.«
    »Dann musst du das Grab noch weiter ausheben. Sonst werden die Sargträger sofort merken, dass die Grube nicht tief genug ist.«
    Man sah Dirk an, dass er die Absicht gehabt hatte, seinen Bruder in das Grab zu rollen und ihn notdürftig mit Erde zu bedecken. Anscheinend war er unfähig, nachzudenken. Er wollte nur nichts mehr von dem sehen, was er angerichtet hatte.
    Jetzt aber sah er ein, dass Aletta recht hatte. »Hilf mir!«
    Doch sie schüttelte den Kopf. »Ich werde dir niemals mehr helfen!«
    »Woher soll ich einen Spaten nehmen?«
    Sie wies mit dem Kopf zum Ende des Friedhofs, wo die Totengräber ihre Werkzeuge in einem kleinen Schuppen unterbrachten. Dann wandte sie sich ab und verließ den Friedhof. Langsam und mit ruhigen Schritten, nicht von Schatten zu Schatten huschend und voller Angst, gesehen und erkannt zu werden. Sie rechnete fest damit, dass sie für ihre Befreiung zahlen musste, dass sie in dieser Nacht, in der Schluss war mit Dirks Erpressungen, büßen musste. In dieser Nacht würde sie jemand erkennen und ihren Eltern etwas zutuscheln, oder zu Hause würde der Vater in der Tür stehen und sie erwarten, vielleicht würde ihr auch beim Betreten des Hauses ein Missgeschick passieren, das ihre Familie aus dem Schlaf riss ...
    Aber nichts dergleichen geschah. Sie gelangte genauso ungesehen ins Haus und in ihre Kammer wie immer. Und das schien ihr der Beweis zu sein, dass ihre Sünde leichter wog, als sie gedacht hatte.
    Nur am nächsten Tag duckte sie sich noch einmal unter der Last der Schuld. Da erzählte Weike ihr weinend, dass ihr Mann sie verlassen habe. Verschwunden sei er, nur einen Zettel mit einem einzigen Satz habe sie vorgefunden. Vermutlich habe er in der Frühe den ersten Dampfer genommen.
    »Warum nur? Warum?«, weinte sie. »Wir waren doch glücklich miteinander.«
    Sylter Kriegsblatt: An der Marne sind heftige Gefechte entbrannt. Die Franzosen sind nicht überlegen, dennoch ist es ihnen gelungen,die Lücken im deutschen Vorstoß zu vergrößern. Ein Überraschungsangriff der französischen Armee zwingt die Deutschen zum Rückzug! Doch noch am selben Tag verhält es sich genau umgekehrt: Die Deutschen greifen die Franzosen an und erobern ihr Terrain zurück. Die deutsche Armee hat also keine ernsthafte Niederlage erlitten.
    Aletta fühlte sich wohler an diesem Morgen. Nicht nur, weil sie von der Übelkeit verschont blieb, sondern vor allem, weil sie am Vorabend mit Jorit gesprochen hatte, weil er nun das Geheimnis ihrer Mutter mit ihr teilte. Sie hatte ihn an ihrer Seite! Sowenig sie es auch verdiente und trotz der Bürde, die ihnen beiden auf den Schultern lastete – Jorit würde ihr beistehen, er machte ihre Probleme zu seinen. Während Aletta die Treppe ins Erdgeschoss hinabstieg, hoffte sie inständig, ihm diese Unterstützung irgendwann vergelten zu können.
    Hinter der Küchentür war Geschirrklappern zu hören. Hauptmann Hütten und Leutnant Fritz hatten anscheinend bereits das Haus verlassen. Aletta legte die Hand auf die Türklinke

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