Sturm über Sylt
Schnur, und die Perlen auf dieser Schnur, die für Zwang, Erpressung und Lüge aufgereiht worden waren, rollten nun in ihrem Kopf herum. Schwul! Die Aggression wurde heftiger, der Hass gewaltig, die Schläge waren nun bis zur Hecke zu hören, im gleichen Rhythmus das Stöhnen und Ächzen.
Dann eine Stimme, die sie noch nie gehört hatte. »Hört auf!«
Aletta machte ein paar Schritte zurück. Bis zur Ecke der Kirche traute sie sich. Dort blieb sie stehen und lauschte angestrengt. Aber sie hörte nur das eine Wort in ihrem Kopf hämmern: schwul, schwul, schwul! Und allmählich konnte sie die Perlen, die von der Schnur geplatzt waren, wieder in eine Ordnung bringen. Eine ganz neue Ordnung ...
Sie schaute um die Ecke der Kirchenmauer und sah zwei Männer miteinander ringen. Von einem dritten konnte sie nur die Beine sehen, sein Oberkörper wurde von einem dichten Busch verdeckt, der auf einem der Gräber stand.
Dirk Stobart gewann soeben die Oberhand. Mit beiden Fäusten stieß er seinen Angreifer zurück, der taumelte und Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Nun erkannte Aletta ihn. Es war Kai, Dirks älterer Bruder. Soeben fand er sein Gleichgewicht zurück, stieß wieder nach vorn wie ein wütender Stier, der seine Hörner als tödliche Waffe gebrauchen will. Aber Dirk hielt seinem Angriff stand und fing ihn mit den Fäusten auf. Seine Rechte fuhr in Kais Gesicht, landete auf dessen Nase. Das Blut schoss heraus und lähmte Kai für ein paar Augenblicke. Er ließ sich jedoch davon nicht aufhalten. Er wischte sich mit dem Unterarm über die Nase und ging sofort erneut zum Angriff über. Es sah so aus, als wäre mit dem Blut, das nun floss, sein Zorn zu einer Waffe geworden, mit der er Dirk überlegen war. Blindwütig schlug er auf seinen Bruder ein, der sein Zögern schnell überwand und sich genauso erbittert wehrte. Schließlich versetzte er Kai einen Faustschlag aufs Kinn, der ihn von den Beinen hob. Haltsuchend griff er um sich, drehte sich auf einem Bein, das Gesicht zum Himmel gewandt, in gefährlicher Rückenlage. Dirk nutzte die Wehrlosigkeit seines Bruders und schlug noch einmal zu. Kai stürzte hintenüber, auf den kantigen Findling des nächsten Grabes. Das Geräusch, das aus berstendem Knochen und einem furchtbaren Saugen bestand, machte Aletta bewegungsunfähig. Wie betäubt stand sie da, starrte auf Kai Stobart, dessen Gliedernoch einmal zuckten. Dann sackte sein Körper in sich zusammen, sein Kopf fiel in einem unnatürlichen Winkel zur Seite.
Die fremde Stimme klang weinerlich und verzagt: »Ist er tot?«
Auch Dirks Stimme schwankte. »Verdammt! Ich habe doch nichts getan! Er ist schuld! Er hat mich angegriffen.«
Aletta sah Dirk Stobart neben dem Grab der Mügges stehen, in dem am nächsten Tag der Senior der Familie beigesetzt werden sollte. Vor ihm lag sein Bruder, die Arme ausgebreitet, das Gesicht ihm zugewandt. Der Sturm riss an seiner offenen Jacke, das konnte Aletta trotz der Finsternis erkennen. Und als in diesem Augenblick die Wolkendecke aufriss und ein weißer Lichtstreif auf die Erde traf, erkannte sie, dass Kai Stobart aus einer Kopfwunde blutete, und bemerkte, dass der Findling neben dem Grab der Mügges voller Blut war.
Und wieder die Stimme: »Was sollen wir jetzt tun?«
Der Mann, dem sie gehörte, trat nun endlich einen Schritt vor, als wollte er auf Dirk zugehen, um ihn zu berühren, um ihn zu schütteln oder seinen Arm zu greifen, um ihn wegzuzerren. Aber zwischen ihnen lag Kai Stobart, regungslos, leblos, wie tot.
Dirk sah auf und starrte den Mann an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Und nun, als hätte Dirk ihn mit einer Taschenlampe angeleuchtet, erkannte Aletta ihn: Es war Boncke Broders, Weikes Mann.
Sie wusste nicht, ob sie einen Laut von sich gegeben hatte, aber es musste wohl so sein, denn beide Männer schauten plötzlich in ihre Richtung. Boncke Broders schlug erschrocken die Hand vor den Mund und wandte sich ab, Dirk dagegen winkte sie mit einer herrischen Geste heran. »Bleib hier!«
Aletta wäre ihm nicht gefolgt, wenn nicht immer noch das Wort durch ihren Kopf gekreist wäre. Schwul! Dirk Stobart war schwul, Boncke Broders ebenfalls. Die beiden waren ein Liebespaar, obwohl es so etwas unter Männern nicht geben durfte.
Weikes Mann arbeitete also nicht gelegentlich als Nachtportier, nein, er traf sich dann mit Dirk Stobart auf dem Friedhof,und sie, Aletta, hatte den beiden ahnungslos das Geld gegeben, das Weike später von ihrem Mann erhielt und für
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