Sturm über Sylt
Frauen scheu zur Seite, als sie die Sängerin Aletta Lornsen erkannten. Ein Mann, der ihr völlig fremd war, lüftete den Hut und verbeugte sich. Noch vor Monaten hätte sie über diese Form der Ehrerbietung lächelnd hinweggesehen, jetzt war sie ihr unangenehm.
»Guten Morgen«, grüßte sie freundlich, darauf bedacht, sich damit zu einer der ihren zu machen. »Will nicht endlich jemand dem Inselkommandanten erzählen, dass es auf Sylt Entenjägergibt? Dass nicht die Wachposten, sondern die Enten irritiert werden sollen?«
Die Umstehenden begannen zu lachen. Plötzlich schienen sie auch das alte dunkle Kleid wahrzunehmen, das Aletta trug, die schlichte Frisur, das ungeschminkte Gesicht. Mit diesem einen Satz war es ihr gelungen, sich gleichzumachen. Als sie den Weg zur Paulstraße einschlug, war sie berührt davon, dass es so einfach sein konnte, eine Distanz, die sich durch Popularität geöffnet hatte, wieder zu schließen. Und sie stellte fest, dass der Erfolg sie glücklich machte.
Bereits beim Betreten des »Hotel Lauritzen« erfuhr sie, dass Jorit Dienst hatte. Der Hausdiener teilte es ihr mit, noch ehe sie nach ihm gefragt hatte.
Lächelnd korrigierte sie ihn: »Ich möchte Beeke Lauritzen einen Besuch abstatten.«
Der junge Mann lief rot an und beeilte sich, Jorits Schwester herbeizuholen.
Beeke kam mit ausgebreiteten Armen auf Aletta zu. »Endlich! Ich habe mich schon gefragt, ob ich es wagen kann, in die Stephanstraße zu kommen, um dich auf Sylt zu begrüßen.«
Sie war eine runde Person, mit einem runden Gesicht und einem runden Körper. Alles an ihr war rund und behaglich. Die beiden umarmten sich, und als Aletta sich aus Beekes Armen gelöst hatte, fragte sie: »Warum hast du es nicht getan?«
Beeke wurde verlegen. »Ich wusste nicht ... war mir nicht sicher, ob du ...« Dann entschloss sie sich zur Offenheit. »Ich war bei deinem Konzert. Es war einfach ... wunderbar. Ich hatte das Gefühl ... das da oben, auf der Bühne ... das ist nicht mehr die Aletta Lornsen, die ich kenne. Das ist ... eine andere Frau. Keine, der ich mal eben einen Besuch abstatten kann.«
Aletta griff nach Beekes Hand und drückte sie. »Du irrst dich, Beeke. Aber ich muss es wohl verstehen. Nicht einmal für Insa bin ich noch die kleine Schwester. Sie behandelt mich gelegentlich auch wie eine Fremde.«
Beekes Gesicht verschloss sich. »Ach ja, Insa ...« Sie ging Aletta voran zu einer Sitzgruppe, die in der Empfangsdiele stand, und wartete, bis ihr Gast sich niedergelassen hatte. Dann setzte sie sich ebenfalls und ergänzte: »Insa hat bisher nicht viel vom Leben gehabt. Sie hätte heiraten und eine eigene Familie gründen sollen.«
»Anscheinend wollte sie nicht.« Aletta griff nach Beekes Hand. »Jorit hat mir von dem Tod deines Verlobten erzählt. Es tut mir leid.«
Beeke dankte ihr mit einem kurzen Nicken, wollte aber augenscheinlich nicht von ihrem eigenen Schicksal sprechen. »Als junges Mädchen war Insa mit Reik Martensen zusammen, daran erinnere ich mich, aber danach ...«
»Er ist auf Sylt«, warf Aletta ein. »Man hat ihn zur Inselwache eingezogen.«
Beeke sah sie überrascht an. »Davon weiß ich nichts.«
Aletta sah auf ihre Hände, während sie sie leise fragte: »Weißt du, was zwischen meinem Vater und dem alten Martensen vorgefallen ist? Sie sollen einen schweren Streit gehabt haben. Kurz bevor Martensen mit Reik aufs Festland gezogen ist.«
Beeke dachte nach und antwortete dann zögerlich: »Soviel ich weiß, ging es um eine Grundstücksgrenze. Dein Vater hatte damals eine Schafweide Richtung Wenningstedt. Die Weide der Martensens lag direkt daneben. Der Besitzer des ›Hotels Victoria‹ wollte beide Weiden kaufen, und dein Vater hat dem alten Martensen vorgeworfen, die Grenzsteine versetzt zu haben, um einen größeren Gewinn zu erzielen.« Sie hob beide Hände, als wollte sie einen Einwand abwehren, bevor Aletta ihn erheben konnte. »Ich habe meine Mutter mal davon reden hören. Aber wie genau sie darüber Bescheid wusste, kann ich dir nicht sagen.«
»Was war der Vater von Reik Martensen für ein Mann?«
Beeke sah Aletta erstaunt an. »Warum willst du das wissen?«
Aber bevor Aletta sich in eine banale Antwort flüchten konnte, betrat eine Dame die Diele. Aletta war es sehr recht. So wurde sie einer Antwort, die nur kläglich ausfallen konnte, enthoben.
Die Frau stutzte, dann kam sie auf Aletta zu. »Frau Lornsen? Die Sängerin? Wie schön, Sie kennenzulernen!« Sie ergriff Alettas Hand
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