Sturm über Sylt
Jorit blieb an ihrer Seite. »Vielleicht hat Dirk Stobart ihn doch versteckt«, meinte er.
»Wie sollte er das vor Emme geheim halten? Sie hat kein Verständnis für Deserteure. Sie hasst Feiglinge, das hat sie mir selber gesagt.«
Nun sah Jorit sehr traurig aus. »Dann müssen wir abwarten, was geschieht. Hoffentlich wird er nicht geschnappt.«
Insa nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. »Tommas Mutter hat mir schon bei der Hochzeit nicht gefallen. Aber ihr Vater scheint ein netter Mensch zu sein. Er ist Arzt, hat aber seine Praxis aufgegeben, als Tomma pflegebedürftig wurde.«
»Ihr zuliebe? Großartig!«
Der späte Nachmittag prunkte mit satten Farben. Wenn auch alles Grüne und Gelbe einen braunen Schimmer bekommen hatte, die Farben schienen vorerst das Einzige zu sein, was der Sommer dem Herbst überließ. Als der Wind eingeschlafen war, zeigte die Sonne ihre Kraft, und die tanzenden Mücken schienen noch nichts vom Herbst gehört zu haben. Aletta schloss die Augen und hielt ihr Gesicht der Sonne hin, Insas Stimme wurde plötzlich schläfrig. Sie streckte die Beine weit von sich und legte den Kopf zurück.
»Die Peters sind vermögend«, erzählte sie. »Es kommt nicht darauf an, dass Dr. Peters als Arzt Geld verdient. Er ist anscheinend ein großzügiger Mensch! Seit er auf Sylt ist, hat er schonmehreren unentgeltlich geholfen. Dass seine Frau ihn zu jedem Patienten begleitet, scheint allerdings niemandem zu gefallen.«
Aletta stimmte aufgeheitert zu. So sehr freute sie sich an der ungewohnten Gemeinsamkeit mit ihrer Schwester, dass sie die Ansicht über Tommas Mutter noch ein wenig mit ihr teilen wollte, und sie schilderte Maike Peters’ Omnipräsenz, bis Insa sogar über ihre Dramatisierungen lachte. Nur von dem misstrauischen Blick, der Aletta getroffen hatte, nachdem Jorit dazugekommen war, sagte sie nichts. Dieser Augenblick ihrer Übereinstimmung war so kostbar, dass er nicht getrübt werden durfte. Etwas, was sich anfühlte wie Glück, füllte sie aus, während Insa lachte und solange das Lächeln in ihrem Gesicht stand. Hätte sie nicht die Rede auf Tommas schweres Schicksal gebracht, wäre Aletta versucht gewesen, das Gesicht von Maike Peters, ihre Mimik, ihren abgespreizten kleinen Finger, den blasierten Augenaufschlag, die spitze Empörung und die hochgezogenen Augenbrauen noch länger und drastischer zu überzeichnen, nur um Insa noch länger zu amüsieren.
Aber nun schwieg sie, als Insa den leichten Moment wieder schwer machte, indem sie den Tag schilderte, an dem Tomma in den Wehen lag, als sich herumsprach, dass sie unter der Geburt einen Schlaganfall erlitten hatte, als das Kind starb, kaum dass es auf der Welt war ... Aletta legte die Hände auf den Bauch, ließ den Blick durch den Garten wandern und versuchte, sich von Insas Worten zu distanzieren. Die Angst, dass es ihr so ergehen könnte wie Tomma, wog plötzlich schwer, das Heitere, das sie für wenige Minuten mit ihrer Schwester verbunden hatte, war dahin.
»Maike Peters ist eine erstaunliche Frau«, sagte Insa plötzlich. »Jorit hat mir von ihrem Schicksal erzählt. Mit großer Hochachtung!«
Aletta war unangenehm berührt, dass Insa etwas wusste, worüber Jorit mit ihr selbst noch nicht gesprochen hatte. »Jetzt habe ich eher den Eindruck, dass er Angst vor ihr hat.«
Insa nickte, als hätte sie dafür Verständnis. »Kluge Frauen erzeugen in Männern häufig Angst. Kluge Frauen werden oft hart und streng.« Sie richtete sich auf und warf Aletta einen Blick zu. »Das wärst du vielleicht auch geworden, wenn du nicht die Chance bekommen hättest, Sängerin zu werden.«
Aletta war erstaunt über Insas Anschauungsvermögen. »Hat Maike Peters auf eine berufliche Laufbahn verzichten müssen?«
»Ja, sie wollte Medizin studieren, Ärztin werden. Aber ihre Eltern waren dagegen. Sie durfte zwar das Abitur machen, aber ein Studium kam nicht in Frage. Wie Jorit erzählte, hat sie trotzdem versucht, sich an einer Universität einzuschreiben, aber dort wurde sie abgelehnt. Frauen waren an der Universität nicht erwünscht. Maike Peters durfte nicht Ärztin werden, obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschte. Und obwohl sie die besten Voraussetzungen bot.«
Aletta war beeindruckt. Eine Frau mit diesem Anspruch, wenn sie ihn auch nicht hatte durchsetzen können, flößte ihr Achtung ein, und ebenso imponierte ihr, dass Insa genauso beeindruckt war. Die Frage, warum Alettas Wunsch, Sängerin zu werden, in ihrer Schwester
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