Sturm über Sylt
Während sie sich wusch und anzog, fiel ihr ein, dass sie in der Nacht mehrmals von Schüssen geweckt worden war. Hatte die Inselwache Jagd auf Entenjäger gemacht? Die Sorge um Sönke begann sie prompt zu quälen. Mit kaltem Wasser versuchte sie, die Angst zu verscheuchen, aber vergeblich. Dabei kannte sie Sönke kaum! In seinen ersten Lebensjahren hatte sie ihn gelegentlich gesehen, hatte gehört, dass er von einer Pflegestelle zur anderen wanderte, dass noch nach Jahren darüber gerätselt wurde, wer seine Mutter sein mochte. Auch dass diese Frau eine Diebin sein musste, war in den Köpfen der Sylter geblieben, die damit Sönkes verzögerte Entwicklung und die Fremdartigkeit erklärten, die sie in seiner dumpfen Naivität zu erkennen glaubten. Aletta hatte nie etwas dazu gesagt, wenn in ihrer Gegenwart von Sönke geredet wurde, aber sie hatte jedes Mal genau zugehört. Sie fühlte sich ihm verbunden, auch heute noch, wenn Sönke selbst auch nichts von diesem Band wusste.
Sie trat aus ihrem Zimmer, mit dem Waschgeschirr in der Hand, um es in der Waschküche auszuleeren. Aber auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen. Es war still im Haus, sehr still. Kein Geräusch drang von unten herauf, keine Stimme war zu hören. Zwar kam es häufig vor, dass Hauptmann Hütten und Leutnant Fritz schon vor Tagesanbruch aufbrachen, aber die Ruhe, die nun im Haus stand, war nicht auf das Fehlen von Stimmen zurückzuführen. Aletta vermisste die Geräusche, die aus der Küche drangen, wenn Insa den Tisch abräumte oder das Geschirr spülte. Selbst wenn sie im Küchengarten arbeitete, war die Stille im Haus eine andere. Dann gab es dieses Knistern nicht, das sanfte Scharren, das kaum vernehmbar war, aber so nah, dass das Stöhnen des Windes und das Schreien der Möwen es nicht übertönen konnten. Nicht Stille war es, sondern eine Lautlosigkeit, die aus dem Anhalten des Atems entsteht.
Aletta schüttelte die Angst ab, die ihr aus ihrer Kindheit bekanntwar, die Angst, allein zu sein. Doch auf der Treppe blieb sie noch einmal stehen und lauschte. Da war es wieder, dieses Schaben, die Bewegung der Luft, die aus einem Flüstern entstanden sein konnte. Sie machte kehrt, ging zu Insas Zimmertür und klopfte leise. »Insa? Bist du da drin?«
Insa hielt sich in ihrem Zimmer nur während der Nacht auf, tagsüber betrat sie es lediglich, wenn sie sich umziehen wollte. Aletta klopfte noch einmal, dann öffnete sie die Tür und sah ins Zimmer. Es war leer, das Bett säuberlich gemacht, das Fenster zum Lüften geöffnet. Nun stieg sie entschlossen die Treppe hinab, leerte ihr Waschgeschirr aus und stellte es in den Küchengarten, um es später gründlich zu reinigen. Von Insa war nichts zu sehen. Vielleicht war sie damit beschäftigt, in den Gästezimmern die Betten frisch zu beziehen?
Sie hatte gerade ihr Teewasser aufgesetzt, als sie Insas Schritte auf der Treppe hörte. Erstaunt sah sie sich um und wartete auf das Erscheinen ihrer Schwester. Aus den Gästezimmern hätte sie durch die Verbindungstür im Flur kommen müssen.
Insa wirkte gehetzt, als sie die Küche betrat. »Du bist schon auf? Sonst kommst du immer erst später herunter.«
»Sonst ermahnst du mich immer, früher aufzustehen«, gab Aletta zurück. »Heute ist es mir gelungen.«
Insa war weniger erfreut, als Aletta erhofft hatte. Es schien sie nicht einmal zu interessieren. Sie ging zum Küchenschrank, öffnete eine Schublade, suchte darin herum, verwünschte leise ihr schlechtes Gedächtnis, weswegen sie ständig suchen müsse, verriet aber nicht, was ihr fehlte.
»Wo warst du?«, fragte Aletta, obwohl sie wusste, dass solche Fragen gefährlich waren, weil Insa Vertraulichkeiten vermied und sehr ungehalten werden konnte, wenn sie glaubte, dass sie das Opfer von Neugier werden sollte.
Aber Insa antwortete ohne Missbilligung: »In meinem Zimmer. Hast du mich gesucht?«
Sie wartete Alettas Antwort nicht ab, und diese war froh, keinegeben zu müssen. Unter leisen Verwünschungen verließ Insa die Küche wieder, und diesmal hörte Aletta das Öffnen und Schließen der Verbindungstür, die in den Trakt mit den Gästezimmern führte.
Wieder hatte Insa sie belogen. Warum? Sie musste in der ersten Etage gewesen sein, sonst hätte sie nicht die Treppe benutzt. In ihrem eigenen Zimmer war sie nicht gewesen, blieb nur die winzige Kammer, die früher Alettas Schlafzimmer gewesen war, oder ... der Speicher. War Insa aufgefallen, dass ihre Schwester sich gelegentlich hinaufgeschlichen
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