Sturm über Sylt
hatte? Wenn ja, dann wusste sie, was Aletta dort suchte. Und wenn sie verhindern wollte, dass das Geheimnis ihrer Mutter ans Licht kam, hatte sie womöglich auf Alettas Spuren weitergesucht und nun vernichtet, was ihr kompromittierend erschien. Aletta spürte, wie sich erneut die Übelkeit in ihr drehte und wand. Insa hatte bestritten, dass es ein Geheimnis gab, aber wenn Alettas Vermutung richtig war, kannte sie das Geheimnis und hatte ein eigenes Interesse daran, dass es nicht ans Licht kam. Was konnte das sein? Und wie konnte Aletta verhindern, dass Insa die Spuren zerstörte, von denen sie erst einige gefunden hatte? Sie musste sich unbedingt bei nächster Gelegenheit erneut auf den Speicher schleichen, um weiterzusuchen. Notfalls musste sie es nachts versuchen, wenn Insa schlief. Allerdings hatte der Vater ihr oft eingeschärft, niemals auf dem Speicher eine Kerze anzuzünden. Sie konnte umfallen, etwas in Brand setzen, und im Nu würde der ganze Dachstuhl in Flammen aufgehen. Die Angst, die ihr als Kind eingeflößt worden war, hielt noch an. Nein, sie würde eine andere Gelegenheit nutzen, um weiterzusuchen. Sie musste herausfinden, wer ihr Vater war. Wenn es der alte Martensen war ... warum wollte Insa nicht, dass sie das Rätsel nach so vielen Jahren löste?
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als es an der Haustür klopfte. Der Postbote stand davor und hielt ihr einen Brief hin. »Aus Wien!«
Aletta warf einen Blick auf den Absender und bedankte sicherleichtert. Endlich Post von Ludwigs Schwester! Vielleicht hatte sie Nachricht von Ludwig und wusste, wie es ihm ging!
Sie speiste den Postboten mit einem kurzen Gruß ab und lief in die Küche. Mit fliegenden Fingern holte sie ein Messer hervor und schlitzte den Briefumschlag auf. Sie wollte sich auf einen Stuhl sinken lassen, um in Ruhe zu lesen, doch schon die Anrede und der erste Satz, den Ludwigs Schwester formuliert hatte, erzeugten einen Schwindel in ihr, dem eine schreckliche Machtlosigkeit folgte. Vornübergebeugt blieb sie stehen, griff sich erst an den Kopf, dann an den Leib, starrte die Zeilen an, ließ sie vor den Augen verschwimmen und wusste doch, was dort stand. Eine Welle des Schmerzes fegte über sie hinweg, die Schwäche, die sie erzeugte, war so gewaltig, dass sie zu Boden sank, den Brief noch in den Fingern. Erst als sie hörte, dass jemand die Küche betrat, begann sie zu schreien. Und sie schrie und schrie und schrie ...
»Ganz ruhig, mein Kind! Ganz ruhig! Ja, weine nur, es tut gut zu weinen. Ach, mein armes Kind ...«
Jemand wiegte sie, hielt sie im Arm, tröstete sie mit einem warmen, weichen Körper, mit starken Armen und diesen heilsamen Worten.
»Ganz ruhig, mein Kind! Alles wird wieder gut.«
Wer hielt sie? Wer tröstete sie auf so wunderbare Weise? Sie schlug die Augen auf und sah in Insas Gesicht. Ihre Schwester war es, die sie im Arm hielt, die immer wieder die Lippen auf ihr Haar drückte, die sich sanft vor und zurück bewegte. Es war das erste Mal, dass sie Insa so nah war, dass sie ihren Atem riechen und die Haut an ihrem Hals schmecken konnte.
»Ich habe nach Pfarrer Frerich schicken lassen. Er wird gleich da sein.«
»Warum?«
Prompt rückte Insa von ihr ab und sah sie misstrauisch an. »Du warst ohnmächtig. Hast du den Brief vergessen?«
Der Brief! O Gott, der Brief! Aletta rang nach Atem, öffnete den Mund, als wollte sie wieder schreien, aber Insa kam ihr zuvor: »Pscht! Du musst jetzt stark sein.«
Sie schob Aletta von sich weg und half ihr beim Aufstehen. Als sie voreinanderstanden, hätte Aletta sich am liebsten vornüber an Inas Brust fallen lassen, doch ihre Schwester schien die Absicht zu spüren und trat einen Schritt zurück. Die Distanz war wieder da. Aber Aletta würde nie vergessen, wie es war, von Insa im Arm gehalten zu werden, nachdem sie den Brief gelesen hatte ...
Meine arme Aletta! Es ist entsetzlich, dass ich Dir diese traurige Mitteilung machen muss. Ich weiß ja, dass sie für Dich noch um ein Vielfaches trauriger ist als für mich. Und ich bin sehr, sehr traurig. Unser geliebter Ludwig ist tot. Nicht auf dem Feld der Ehre gefallen, er ist so gestorben, wie er gelebt hat: als Gentleman. Er hat die Übergriffe der Soldaten der k. u. k. Armee auf die Zivilbevölkerung nicht zulassen wollen und hat sich vor unschuldige Menschen gestellt, um ihr Leben zu schützen. In Serbien wird anscheinend ein regelrechter Krieg gegen die Zivilbevölkerung geführt. Stell Dir vor, gegen die eigene
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