Sturm über Sylt
Bevölkerung! Entweder werden ihnen russophile Neigungen unterstellt oder Spionage und Kollaboration mit dem Feind. In dem serbischen Städtchen Šabac ist es anscheinend zu einem Massaker an den Bewohnern gekommen. Massenhinrichtungen soll es gegeben haben, nicht Übergriffe, die im Getümmel des Gefechts geschahen, sondern planmäßig und auf höheren Befehl erfolgtes Töten von vermutlich unschuldigen Menschen. Bei diesem entsetzlichen Treiben wollte unser geliebter Ludwig nicht mitmachen. Er wehrte sich dagegen, weigerte sich, an Erschießungen teilzunehmen, und wurde so ein Opfer seiner Menschenliebe, seines Gerechtigkeitssinnes und seines Mutes. Er wurde wegen Befehlsverweigerung erschossen. Die Trauer um meinen geliebten Bruder ist unendlich. Ich hoffe, dass dieser unsägliche Krieg bald ein Ende findet, dass wir uns in Wien wiedersehen und gemeinsam um Ludwig weinen können. Für immer – Gertraude Burger. Die Tage danach verbrachte Aletta bei Ludwig. Sie schloss sich in ihrem Zimmer ein, kam nur gelegentlich in die Küche, um sich etwas zu essen oder zu trinken zu holen, ging dann wieder hinauf, auch wenn Insa sie anflehte, in ihrer Nähe zu bleiben. Pfarrer Frerich klopfte an ihre Tür und bot seelischen Beistand und gemeinsame Gebete an. Jorit, der von Insa alarmiert worden war, rief ihren Namen, und schließlich erschien sogar Reik Martensen vor ihrer Tür und fragte, ob er ihr helfen dürfe. Keinen Einzigen ließ sie herein. Auf alle Fragen rief sie nur eine Antwort durch die geschlossene Tür zurück, damit sie nicht glaubten, sie habe sich etwas angetan, und am Ende noch gewaltsam in ihr Zimmer eindrangen.
»Lasst mich in Ruhe!«
Mehr bekam Insa nicht zu hören, wenn sie nach Aletta rief, und mehr ernteten auch Frerich, Jorit und Reik nicht. Aletta wusch und kämmte sich nicht, sie lag in ihren Kleidern auf dem Bett, zog sich nicht aus, wenn es Nacht wurde, kleidete sich nicht um, wenn der nächste Tag anbrach. Nur den fliederfarbenen Seidenschal wusch sie jeden Abend, hängte ihn des Nachts über eine Stuhllehne zum Trocknen und legte ihn sich morgens wieder um.
Manchmal stand sie auf, ging zum Spiegel und starrte ihr bleiches Gesicht an, gelegentlich kramte sie die Aufzeichnungen ihrer Mutter hervor, um sie Ludwig vorzulesen, dann warf sie sich wieder aufs Bett und starrte zur Decke, wo ihr sein Bild erschien.
Sie lernte ihn noch einmal kennen, sah ihn zum ersten Mal in einer Schar von Verehrern, aus denen er herausragte, obwohl er nicht größer war als die anderen, war noch einmal hingerissen von seinem Charme, seiner Höflichkeit, seiner Bildung, seinem Wissen, das alle anderen in den Schatten stellte, staunte noch einmal über die Tiefe ihrer Gefühle für ihn, genoss seine Liebe, die so stark und unverbrüchlich war, dass nichts ihr etwas anhaben konnte, kein Krieg, keine Befehlsverweigerung. Sie wärmtesich wieder und wieder in seinem Schutz und seiner Fürsorge und versuchte zu singen, weil sie ihm so nahe war. Doch nicht einmal eine Tonleiter brachte sie heraus. Verzweifelt stand sie vor dem Spiegel und versuchte es immer und immer wieder. Aber sogar die Atemübungen gelangen ihr nicht. Sie hörte Ludwigs Stimme, die sie bat zu singen, wenn sie an ihn dachte, zu singen, wenn sie ihm nah sein wollte, aber ... sie konnte nicht singen. Und gerade als sie resignieren wollte, hörte sie seine Stimme erneut, ernster, nachdrücklicher, sogar ein wenig abweisend.
»Ich will keine Kinder, Aletta. Ich tue alles für dich, aber zwinge mich nicht, Vater zu werden.«
Es war ein Sonntag, an dem sie ein letztes Mal von den Wänden widerhallte, danach gab es Ludwigs Stimme nur noch in ihrem Kopf. Aletta merkte, dass sie ihrer Genesung näherkam. Ludwig war nun in ihr. Wo er beerdigt worden war, spielte keine Rolle, er hatte sich in ihr verewigt. Sie würde ihn nie wieder verlieren, er würde immer bei ihr bleiben. Dort, wo es ein weiteres Leben gab, das er nicht wollte, das ihn vielleicht sogar von ihr entfremdet hätte, wenn er zurückgekehrt wäre. Dort, wo er sich ihre Liebe teilen musste, wo sie ihm nie ganz allein gehören würde, dort, wo es jemanden gab, der ebenfalls zu ihm gehörte, den er aber vielleicht niemals hätte lieben können ...
Fünf Tage waren inzwischen vergangen. Als Insa an diesem Morgen wieder bei ihr anklopfte, öffnete Aletta ihr und bat um frisches Wasser, damit sie sich waschen konnte. Bevor Insa mit einer großen Kanne bei ihr erschien, hatte sie ihre seidene
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