Sturm über Sylt
entlocken.«
»Zu welchem Zweck?«, fragte Aletta, die unbemerkt hinzugetreten war.
Leutnant Fritz wurde unsicher. »Man weiß nie ...«
Aletta fiel die Bekanntmachung ein, die sie am Vormittag gelesen hatte. Nachdem sie ihren Entschluss gefasst hatte, Ludwigs Vermächtnis zu erfüllen, das er ihr in den vergangenen fünf Tagen übermittelt hatte, war sie ruhig geworden, ganz ruhig. Es kam ihr nun auch nicht darauf an, den Entschluss, den sie gefasst hatte, unverzüglich in die Tat umzusetzen. Nein, sie wollte mit sich selbst vollkommen im Frieden sein, wenn sie zu Frauke Lützen ging. Sie wusste genau, was Ludwig ihr wünschte, und hatte keinen Zweifel an dem, was er sich selbst gewünscht hätte. Sie brauchte ein paar Tage des Vergessens, eine Zeit der Rückkehr in den Kriegsalltag, einen Besuch in dem Alltag, den sie verlassen hatte, und eine Zeit, in der sich der eine Alltag mit dem anderen verbinden ließ, ein Rückblick ohne Bitterkeit, eine Annahme der derzeitigen Verhältnisse, aber ein Optimismus, der sich unmissverständlich rückwärtswandte. Das alles musste sie erreichen, dann würde sie so weit sein.
Sie war wieder zum Rathaus gegangen, hatte sich gezwungen, die Nähe des »Miramar« auszuhalten, und war stolz gewesen, auf die Zeit dort wie auf eine schöne Erinnerung zu blicken. Und sie hatte erkannt, dass es womöglich leichter war, eine Erinnerung auszuhalten, für die es keine Wiederkehr gab, als eine, die mit einer Sehnsucht verbunden war, die sich irgendwann als unerfüllbarerwies. Dann, wenn sie kein Schmerz mehr war, sondern nur noch ein laues Unwohlsein.
Die neueste Bekanntmachung hatte sie sorgfältig gelesen, um nicht zum »Miramar« hinüberblicken zu müssen und sich nicht trösten lassen zu wollen von der menschenleeren Terrasse und dem verödeten Eingang.
Für die Insel Sylt verbiete ich auf das strengste, dass in den Gast- und Schankwirtschaften, Cafés und Konditoreien von den Inhabern, Pächtern und deren Angestellten alkoholhaltige Getränke in solchem Maße an Personen des Soldatenstandes verabfolgt werden, dass deren dienstliche Leistungsfähigkeit dadurch irgendwie beeinträchtigt werden könnte. Zuwiderhandlungen werden nach § 9 des Gesetzes über den Belagerungszustand mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft. Die Konzessions-Inhaber sind persönlich für die Befolgung dieses Verbots haftbar. Der Kommandant der Insel Sylt.
»Es ist also wichtig, die alkoholhaltigen Getränke in privater Atmosphäre zu sich zu nehmen?«, fragte Aletta und merkte, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Hauptmann Hütten und Leutnant Fritz mussten zugeben, dass sie sich auf diese Weise über die Anordnung hinwegzusetzen gedachten. Wer sich unbekümmert betrinken wollte, musste dafür sorgen, dass er nicht beobachtet wurde.
»Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, erklärte der Leutnant hastig. »Wir beschaffen uns die Getränke selber und zwingen Sie nicht, uns beim Trinken zuzusehen. Die Gläser holen wir uns aus der Küche, wenn Sie gerade in einem anderen Raum des Hauses sind. Notfalls können Sie später behaupten, von nichts etwas gewusst zu haben.«
Dass auch Jorit Lauritzen und Reik Martensen zu den Gästen gehören würden, die von Hauptmann Hütten zum Umtrunk geladen worden waren, damit hatte Aletta nicht gerechnet. DassEberhard Kalkhoff, der bei den Nachbarn einquartiert worden war, vor der Tür erschien, wunderte sie allerdings nicht. Sie warf Insa einen Blick zu, die dem Hauptmann, der sie zu kennen vorgab, jedoch den Rücken zukehrte und in der Küche verschwand. Aletta folgte ihr, denn so war es abgemacht. Sie wollten nichts wissen, nichts sehen oder hören von dem Gelage der Soldaten.
»Dass man sich so etwas bieten lassen muss«, brummte Insa, als Aletta sich zu ihr setzte. »Es ist mein Haus, und ich darf niemandem die Tür weisen, der mir nicht passt?«
»Es ist unser Haus«, korrigierte Aletta.
Insa sah erschrocken auf, und Aletta legte beruhigend eine Hand auf ihre, als sie sah, wie verlegen ihre Schwester wurde. Aber die Hand wurde ihr prompt entzogen. Nach der wundervollen Einigkeit, die Ludwigs Tod für kurze Zeit erzeugt hatte, war Insa erneut von ihr abgerückt. Nicht einmal die Frage, ob es richtig war, auf Ludwigs Kind zu verzichten, hatte wieder für Annäherung gesorgt. Insa bot kein Gespräch und keine Hilfe an. Aber sie war bereit, Alettas Entscheidung zu akzeptieren und ihr sogar beizupflichten. Mehr nicht! Musste das nicht genügen?
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