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Sturm

Sturm

Titel: Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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eines Schmieds. Seine Hände waren breit und so voller Schwielen, dass er das Holz der Krücken kaum noch spürte. Es waren hässliche Hände, die kaum geeignet erschienen, die Schönheit zu entdecken, die sich im Inneren alter Schriften verbarg.
    »Nein«, antwortete er auf Rickards Frage, »es gibt fast ein Dutzend Übersetzungen. Die Salzrollen, wie sie genannt werden« – er strich mit gefühllosen Fingern über die Abschrift –, »gelten wegen ihrer Vollständigkeit als eine der bedeutendsten Schriften der Vergangenen. Sie …«
    Rickard ließ ihn nicht ausreden. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. »Wieso übersetzt du sie dann noch mal?«
    Das war eine Frage, die Craymorus sich noch nie gestellt hatte. Er zögerte. »Um sie für mich zu entdecken«, sagte er dann. »Sonst kann ich sie nicht wirklich verstehen.«
    Rickard schob sein Kinn über den Speerschaft. Die Muskeln in seinen Armen zitterten unter der Anstrengung. »Das ist doch Blödsinn. Das wäre ja so, als würdest du absichtlich ohne Karte losreiten, obwohl du weißt, dass es eine gibt. Du könntest dich verirren oder auf der Suche nach einem Pass in den Bergen erfrieren, nur weil du den Weg für dich selbst entdecken willst.«
    Craymorus lächelte. »Die Gefahr, beim Übersetzen von Schriften zu erfrieren, ist eher gering.«
    Rickard ließ den Speer los und begann seine Arme zu massieren. »Stimmt schon, aber Leute wie du verschwenden Monate, Jahre, vielleicht sogar ihr ganzes Leben damit, die Arbeit anderer zu kopieren, obwohl sie während dieser Zeit etwas Eigenes erschaffen könnten. Das ist einfach nicht« – er suchte einen Moment nach dem richtigen Wort – »effizient.«
    Er denkt so anders als ich, dachte Craymorus. Sein Geist beschäftigt sich mit Truppenstärken und der nächsten Ernte. Jahrtausendealte Worte sind bedeutungslos für ihn.
    »Nein, effizient ist es wohl nicht«, sagte Craymorus, »aber manche halten es für wichtig.«
    »Manche.« Rickard setzte sich ins Gras und gähnte. »Ich geh bei Sonnenuntergang angeln. Kannst ja mitkommen, wenn …«
    Er unterbrach sich. Sein Blick zuckte zur Seite. Einen Herzschlag später hörte Craymorus das Krachen eines Astes.
    »Wer ist da?«, rief Rickard in den Wald hinein. Geschmeidig kam er auf die Beine. Seine Hand tastete nach dem Speer, der zwischen den Ästen klemmte. Craymorus griff nach einer seiner Krücken. Seit einiger Zeit kursierten Gerüchte über Piraten, die Schüler aus ihren Hütten entführten und als Sklaven verkauften. Niemand wusste, ob das wirklich stimmte. Die Meister sagten nichts dazu, wenn man sie fragte.
    »Kein Feind«, rief eine Mädchenstimme, die Craymorus sofort erkannte. Penya, die Tochter eines Krebsfischers, trat aus dem Wald und ging über die Lichtung auf die Hütte zu. Sie war klein, schmal und dunkel, so wie die meisten Varna, das Fischervolk, das die Inseln vor Westfall bewohnte. Ihr Gesicht war ebenmäßig und glatt, ihr schwarzes Haar fiel bis auf ihre Schultern. Sie trug ein langärmeliges, braunes Hemd, das bis zu den Knien reichte, und keine Schuhe. Es war die traditionelle Kleidung der Varna.
    Rickard ließ die Hand sinken. Craymorus stand auf und schob die Krücken unter seine Schultern. Die Bewegung war ihm so vertraut, dass er sie kaum noch bemerkte.
    »Wir heißen dich willkommen«, sagte er und neigte den Kopf zur förmlichen Begrüßung.
    Rickard grinste. »Da bist du ja wieder.«
    Craymorus wusste nicht, was er damit sagen wollte.
    Penya erwiderte seine Begrüßung und sah zuerst Craymorus, dann kurz und beinahe verschämt Rickard an. »Die Meister wünschen euch zu sprechen«, sagte sie. »Ich werde euch zu ihnen bringen.«
    Das Grinsen verschwand aus Rickards Gesicht. »Welcher Meister? Steht eine Prüfung an?«
    »Ich glaube nicht. Der Rat will euch sprechen.«
    »Dann muss es wichtig sein«, sagte Craymorus. In den Jahren seines Studiums war er nur einmal zum Rat gerufen worden. Damals hatte man ihm den Tod seiner Schwester mitgeteilt.
    Rickard half Craymorus, die Sachen in die Hütte zu räumen. Das Wetter auf den Inseln änderte sich schnell.
    »Mein Boot liegt in der Bucht. Der Weg ist länger, aber leichter«, sagte Penya.
    »Danke.« Craymorus lächelte knapp. Seine Beine schleiften über den Boden, als er die Krücken vor sich setzte. Penya und Rickard ließen ihn vorgehen und die Geschwindigkeit bestimmen. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sie sogar ein wenig zurückfielen und sich flüsternd unterhielten. Er fragte sich,

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