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Sturm

Sturm

Titel: Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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habe die dritte Zeile übersetzt.«
    »Meinen Glückwunsch.« Rickard atmete schwer. Seit dem Mittagessen übte er Stöße mit einem gepolsterten Schwert und einem von einem Baum schwingenden Hafersack. Er war groß und muskulös, mit einem offenen Gesicht und dunkelblondem Haar, das ihm bis über die Augen fiel. »Wie lange hast du gebraucht?«
    »Vier Tage, einen Tag weniger als für die zweite Zeile.«
    »Deine Geduld ist bewundernswert.« Rickard sprach im Rhythmus seiner Bewegungen. Er tänzelte vor und zurück, tauchte unter dem Sack hindurch und schlug zu. »Ich könnte nie so lange auf ein Stück Papier starren. Wäre mir zu langweilig.«
    »Nein, das ist überhaupt nicht langweilig. Ganz im Gegenteil.« Craymorus begann in seinen Notizen zu blättern. »Wer hat schon die Möglichkeit, einen Text der Vergangenen in ihren eigenen Worten zu lesen und diese unglaublich komplexe Sprache verstehen zu lernen? Wenn du dich nur ein wenig damit beschäftigen würdest, dann …«
    Rickard unterbrach ihn lachend. »Cray, eins nach dem anderen. Ich bin schon froh, wenn ich unsere Sprache einigermaßen beherrschen lerne.«
    Niemand außer Rickard nannte ihn Cray. Er hatte noch nie einen Spitznamen. Er dachte an die Kinder in den Gassen Slebins und an die Rufe, die ihn so oft bis nach Hause verfolgt hatten. Zumindest keinen, den ich mochte.
    »Was lassen dich die Meister gerade lesen?«, fragte er.
    Rickards Schwert schlug dumpf gegen den Hafersack. »Cero.«
    »Ein Mann, der seinem Schatten folgt, wird die Sonne niemals sehen«, zitierte Craymorus. Cero war einer der bekanntesten Philosophen des Südens.
    »Genau.« Rickard setzte sich ins Gras und begann die Polsterung seines Schwertes zu entfernen. »Haben die Meister dir mal erklärt, weshalb ich Philosophen studieren muss? Warum nicht Geschichte oder Bürokratie oder von mir aus Pferdezucht? Irgendwas Sinnvolles.«
    »Die Meister erklären niemandem etwas, schon gar nicht einem anderen Schüler.«
    »Ich dachte, das ist bei dir vielleicht anders. Du gehörst doch fast schon zu ihnen.«
    Es stimmte, dass Craymorus länger auf den Inseln lebte als jeder andere Schüler, den er in dieser Zeit kennen gelernt hatte. Vor sieben Jahren hatte er das Schiff, das regelmäßig die Hauptinsel anfuhr, verlassen und es danach nie wieder betreten. Trotzdem fühlte er sich den Meistern nicht näher als am ersten Tag.
    »Nein, sie haben mir nichts gesagt.«
    »Verdammt.« Rickard ließ sich mit dem Rücken ins Gras fallen. Er war erst seit weniger als einem halben Jahr auf der Insel, aber Craymorus bezweifelte, dass er noch viel länger bleiben würde. Die Meister entschieden, was sie ihre Schüler lehrten. Rickard, der auf Schlachtfeldern und in Kasernen aufgewachsen war, hatte Lesen und Schreiben gelernt. Außerdem wurde er in Waffenkunst und Menschenkenntnis unterrichtet – und in Philosophie.
    »Die Meister wissen, was sie tun.« Bei seiner Ankunft hatte Craymorus noch gehofft, man würde ihn in den Grundlagen der Magie ausbilden. Sein Vater war weit über die Grenzen des Landes bekannt, und Craymorus hatte sein Talent geerbt, auch wenn er es nie ausüben würde. Beinahe unbewusst berührte er bei dem Gedanken die Krücken, die an der Holzbank lehnten. Der dumpfe Schmerz in seinen Beinen begleitete ihn wie sein Herzschlag, allgegenwärtig und alles bestimmend.
    Seine Finger glitten von den Krücken ab. »Wirklich, sie wissen, was sie tun. Sie lehren mich Geschichte, und mittlerweile habe ich erkannt, dass ich nie etwas anderes lernen wollte.«
    Craymorus sah zum Eingang der Blockhütte. Rickard hatte sie kurz nach seiner Ankunft auf den Inseln gebaut. Jeder Schüler erhielt genügend Baumaterial, um eine eigene Behausung zu errichten, konnte aber auch in den Schlafsälen des Hauptgebäudes wohnen. Craymorus hatte dort vier Jahre lang gelebt, Rickard keine zwei Wochen. Wenn die Lehrer ihn nicht gebeten hätten, in Rickards Hütte zu ziehen, würde er jetzt noch dort leben. Das sagte wohl irgendetwas über seinen Charakter aus, aber er war sich nicht sicher, was.
    »Bist du der Erste, der diese Schrift übersetzt?«, fragte Rickard, während er einen Speer zwischen die Äste zweier Bäume legte und sich daran hochzuziehen begann. Seit er im Armdrücken gegen Craymorus verloren hatte, versuchte er seine Arme zu stärken, er verlor nicht gern. Craymorus sagte nichts dazu, auch wenn er wusste, dass Rickard ihn niemals schlagen würde. Er hatte die Brust eines Ringers und die Arme

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