Sturm
abzustützen.
Dann schloss sie die Tür. Es wurde dunkel. Craymorus wagte kaum zu atmen. Er hörte, wie die Tür des Audienzzimmers geöffnet wurde, dann laute Schritte, die an ihm vorbei den Gang hinuntergingen.
Einen Moment später herrschte Stille.
Craymorus zog die Tür einen Spalt auf. Der Gang lag leer vor ihm. Es war niemand zu sehen. Das Mädchen war verschwunden.
Kapitel 11
Während seines großen Feldzugs nahm Geroy, der Unbedarfte, Somerstorm ohne einen einzigen Schwertstreich ein. Niemand stellte sich ihm entgegen. In einem Brief an seinen Sohn schrieb Geroy, tatsächlich hätte es die Somer verwirrt, dass er den ganzen weiten Weg auf sich genommen hatte, nur um sie zu unterjochen.
Jonaddyn Flerr, Die Fürstentümer und Provinzen der vier Königreiche, Band 2
Sie würden ihn zu Tode hetzen, den Nachtschatten, der die Weberin getötet hatte. Gerit hatte am Nachmittag davon erfahren, und jetzt, kurz nach Sonnenuntergang, stand er zwischen Menschen und Nachtschatten auf der Festungsmauer und erwartete die Vollstreckung des Urteils.
Der Gefangene stand vor den Mauern. Er war ungefesselt und nackt. Ein brauner Fellstreifen lief von seinem Kinn über das Gesicht, den Kopf und den Rücken hinab. Er war groß, kräftig und nervös. Gerit sah, wie er zitterte.
Fünf Nachtschatten standen hinter ihm, drei von ihnen auf allen vieren. Sie waren von niemandem erwählt worden, hatten sich scheinbar zufällig von den anderen getrennt und waren vor die Mauern getreten, als General Korvellan den Gefangenen nach draußen brachte. Horon war einer von ihnen. Zähnefletschend und grinsend stand er vor dem Tor. Sein Gesicht war fast menschlich, sein Körper gekrümmt und übersät mit hellen Fellbüscheln. Ab und zu sah er zu den Zuschauern auf der Mauer hinauf, genoss wohl ihre Aufmerksamkeit.
Gerit hatte in seinem Leben noch nie jemanden so sehr gehasst.
Heute werde ich dich töten oder sterben, dachte er.
»Du solltest dir das nicht ansehen«, sagte der alte Moksh. Er saß auf einem Fass und schüttelte den Kopf. »Du bist zu jung dafür.«
»Ich hab schon viele Hinrichtungen gesehen.« Die verkrusteten Wunden auf Gerits Wange zogen bei jedem Wort. Moksh hatte ihn gefragt, was geschehen war, aber er hatte es ihm nicht gesagt. Die Scham saß zu tief.
Er sah über die Mauer zu dem Gefangenen. »Worauf warten sie?«
»Ich weiß es nicht.« Das war die Antwort, die Gerit auf fast alle Fragen erhielt, die er über die Nachtschatten stellte. Es kam ihm so vor, als wisse Moksh weniger über seine eigene Art als er. Die anderen Nachtschatten, selbst die, die frisch in der Festung eintrafen und noch nie unter ihresgleichen gewesen waren, schienen hingegen augenblicklich zu verstehen, welches Verhalten von ihnen erwartet wurde. Niemand musste es ihnen erklären. Vielleicht war Moksh einfach zu alt dazu.
Gerit sah sich um. Er hatte sich angewöhnt, die Nachtschatten zu beobachten. Sein Leben hing davon ab, dass er sie verstand. Doch es fiel ihm schwer. Immer wieder schätzte er sie falsch ein. Auch die Hinrichtung lief nicht so ab, wie er es erwartet hatte. Bei menschlichen Hinrichtungen herrschte sogar in Somerstorm Festtagsstimmung. Menschen bespuckten die zum Tode Verurteilten, fliegende Händler verkauften Bier und Fischpudding, jeder abgeschlagene Kopf wurde gefeiert. Über der Festung der Nachtschatten lag jedoch Stille. Die wenigen Menschen, die Korvellans Einladung gefolgt waren, standen reglos und mit grauen Gesichtern auf den Mauern. Unter ihnen befand sich auch die Familie der Weberin. Gerit erkannte sie an den Trauerbändern, mit denen sie ihre Hand- und Fußgelenke umwickelt hatten. Sie wirkten gefasst, nur das kleinste Kind, das von einer älteren Frau auf dem Arm getragen wurde, weinte.
Die Nachtschatten, die neben und zwischen den Menschen standen, waren unruhiger. Vielleicht waren nicht alle mit dem Todesurteil einverstanden.
»Warum tut Korvellan das?«, fragte Gerit. »Warum tötet er einen seiner Männer wegen einer Somer? Sie ist doch nicht die Erste, die umgebracht wurde.«
Moksh schüttelte den Kopf. »Er hat seine Gründe.«
Was bedeutete, dass er nicht wusste, weshalb Korvellan so handelte. Ein Nachtschattensoldat, der ein wenig entfernt an den Zinnen lehnte, drehte sich um. Er war kaum älter als Gerit.
»Mir reicht dein Gerede«, sagte er. Seine Stimme kippte mitten im Satz. Er war im Stimmbruch. »Du weißt nichts von Ehre und Entscheidungen, Mensch, also halt dein
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