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Sturm

Sturm

Titel: Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Kern
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Maul.«
    Gerit duckte sich unter seinen Worten. »Verzeihung, Herr.«
    Der Junge beachtete ihn nicht weiter.
    Ehre und Entscheidungen. Gerit verstand nicht, was damit gemeint war. Er sah Moksh an, aber der hielt nur einen knochigen Finger vor die Lippen und schüttelte den Kopf. Sein Blick war ängstlich. Gerit wusste, dass er befürchtete, seinen einzigen Freund eines Tages zu verlieren. Kein anderer Nachtschatten sprach je mit ihm. Gerit wusste nicht, warum.
    Vielleicht ist heute dieser Tag, dachte er. In seinem Rücken spürte er den Griff des Küchenmessers, das in seinem Gürtel steckte. Horon hatte ihm befohlen, es wegzuwerfen, weil die Spitze abgebrochen und die Klinge rostig war. Gerit hatte es nicht getan. Er dachte an all die Geschichten, die er über die mächtigen Krieger der vier Königreiche gelesen hatte. Manche von ihnen hatten sich mit dem Schwert in der Hand gewaltigen Ungeheuern entgegengestellt, hatten Gefahren besiegt, die allen anderen unvorstellbar erschienen waren. Nun musste Gerit sein eigenes Ungeheuer besiegen, und das rostige Messer würde sein Schwert sein.
    Sein Blick glitt über die Mauern. Alle hatten sich dort versammelt, von den Küchenhilfen bis zu Schwarzklaue und Korvellan. Er würde nie wieder eine solche Gelegenheit erhalten. Er durfte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.
    Ehre und Entscheidungen. Vielleicht verstand er doch, was damit gemeint war.
    Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass die Nachtschatten vor dem Tor sich bewegten. Er trat an die Zinnen.
    »Sieh dir das nicht an«, sagte Moksh hinter ihm.
    »Ich muss es sehen.« Gerit richtete seinen Blick auf Horon. Jede Bewegung beobachtete er, jedes Drehen seines Kopfes, jedes Scharren seiner Krallen im Lehm. »Ich muss es sehen«, flüsterte er.
    Die Jagd begann ohne einen Befehl. Bei einem Lidschlag umkreisten sich die Gegner noch, beim nächsten lief der Gefangene bereits los. Er war schnell, schneller als Gerit je einen Menschen hatte laufen sehen. Seine nackten Fußsohlen schienen den Lehm kaum zu berühren. Seine Jäger blieben zurück. Horon setzte zur Verfolgung an, doch der Nachtschatten neben ihm zog ihn am Kragen zurück. Er sagte etwas zu Horon, das auf der Mauer nicht zu verstehen war.
    Der Gefangene entfernte sich immer weiter von seinen Jägern. Einige Menschen wurden unruhig, schienen nicht zu wissen, ob sie einer Hinrichtung oder einer Flucht zusahen. Gerit bemerkte die gespannte Erwartung auf Horons Gesicht.
    Er weiß etwas, dachte er. Trotzdem kann er sich kaum zügeln. Er ist undiszipliniert und dumm. Das darf ich nicht vergessen.
    Der Gefangene gewann an Selbstsicherheit. Seine Schritte wurden länger, kontrollierter. Im Lauf drehte er sich zu seinen stillstehenden Verfolgern um, dann wandte er sich nach Westen.
    »Sie lassen ihn gehen«, sagte Moksh. »Das ist gut. Es muss nicht noch mehr Blut fließen.«
    Der Gefangene war nur noch ein Fleck am Horizont, kaum größer als eine Erbse. Er folgte der Straße, die zu den Minen führte, ein kluger Plan, denn in den zerklüfteten Bergen würden selbst die Nachtschatten rasch seine Spur verlieren.
    Doch dann sah Gerit sie, sechs, sieben Gestalten, die sich aus den Felsen lösten. In breiter Linie liefen sie dem Punkt am Horizont entgegen, einige aufrecht, andere auf allen vieren.
    Der Gefangene blieb stehen. Einen Moment schien er unschlüssig zu sein, dann wich er vor ihnen zurück. Er begann der Stadt entgegenzulaufen, aber jetzt schlossen sich auch die Nachtschatten vor der Festung der Jagd an. Lautlos liefen sie auf ihn zu, breit auseinandergefächert wie Treiber bei einer Jagd. Sie schnitten ihm den Weg zur Stadt ab, trieben ihn wieder auf die Festung zu.
    Der Gefangene schlug einen Haken, versuchte in ihren Rücken zu kommen. Er war schnell, aber nicht so schnell wie die vierbeinigen Nachtschatten. Drei von ihnen schwenkten um, jagten ihn jetzt den Bergen entgegen. Sie hielten Abstand und wichen immer wieder aus, wenn er sich ihnen näherte. Im harten Licht der Zwillingsmonde waren ihre Gesichter weiß, ihr Fell schwarz.
    Der Gefangene starb im Morgengrauen. Am Ende kroch er durch den Lehm, angetrieben von dem winzigen bisschen Hoffnung, das seine Verfolger ihm immer wieder gaben. Eine scheinbare Öffnung, eine vorgetäuschte Unaufmerksamkeit; das reichte aus, um ihn noch einmal auf die Beine zu bringen. Jeder Atemzug war ein Wimmern, jede Bewegung eine Qual, deren Ausmaß Gerit sich nicht vorstellen konnte. Moksh war längst hinter ihm

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