Sturmauge
dem Gesicht. »Wir sind zuerst hierhergekommen, weil es näher lag, aber nicht, weil die Herzogin Findelkinder aufzunehmen pflegt.«
»Edle Dame, wollt Ihr damit sagen, dass sich hier wiederholen
könnte, was in Scree geschah?«, fragte Harys mit wachsender Besorgnis.
»Das bezweifle ich«, antwortete Zhia leichthin. Sie klopfte mit den gepflegten Fingernägeln auf den Tisch, als trommle sie den Takt zu einer Musik, die nur sie hörte.
Koezh wartete. Seine Schwester stellte seine Geduld seit je gern auf die Probe. Mit ihren Neckereien konnte sie Leute leicht in die Verzweiflung treiben. Er hatte Mitleid mit den armen, dummen Jungs, wie Doranei, diesem Soldaten aus Narkang. Selbst wenn ihre Zuneigung zu ihm aufrichtig war, würde die Unsterbliche trotzdem ihre Spielchen mit ihm treiben.
Und auch Liebe kennt Grenzen , dachte Koezh, während er sich an Doraneis Gesicht erinnerte. Der junge Mann war ein herausragender Soldat. Das musste er auch sein, wenn er seinen Posten behalten wollte, aber seit Scree war er für Koezh nur noch ein verirrter Welpe, der hinter Zhia herlief. Ich glaube nicht, dass die Liebe dich schützen wird, mein Junge. Wenn dieser Schatten uns geben kann, was wir wollen, wird Zhia nicht zögern.
»Ein Betrüger führt das Publikum nicht zweimal mit dem gleichen Trick an der Nase herum«, sagte Zhia schließlich. »Das Spiel hier heißt Täuschung. Der Schatten ist vielleicht so schwach, dass ihn jeder von uns wie eine Fliege zerquetschen könnte.«
»Wenn der gleiche Trick benutzt würde, wüsste König Emin genau, wo er hinstechen müsste«, vollendete Koezh den Gedanken für sie. »Was soll dann der neue Trick sein? Das Kind?«
»Vermutlich – wir müssen nur herausfinden, welche Rolle es spielt. Unsere Hinweise auf das Rätsel stecken in dem, was sich das Volk erzählt. Der ermutigte Feigling, die niedergestreckten Priester.«
»Beides Geschichten, wie sie ein Harlekin erzählen würde«, betonte Koezh. »Aber ich bin sicher, dass dies keine schnelle
Betrügerei ist, nicht nach dem, was wir im Norden erlebten. Dafür ist es zu unauffällig und zu langsam.«
Harys hüstelte, um auf sich aufmerksam zu machen. »Mir ist noch etwas eingefallen. Eine der Dienerinnen sagte, sie habe einen Leprakranken am Tor des Rubinturms gesehen. Die Wachen haben ihn zuvor verscheucht, aber er kehrt jeden Tag zurück, nur um dann wieder vertrieben zu werden. Er redet fortwährend davon, dass er bei den Göttern um Fürsprache bitten will.«
Zhia hob eine Augenbraue. »Will er den Verlust des Glaubens beschleunigen? Er kann doch nicht wie in Scree alle gegen die Götter aufbringen, also bietet er eine Alternative …«
»Und dann?«, wandte Koezh ein. »Das Kind töten, um ihnen alles zu nehmen, was sie anbeten? Das wird nicht so bald geschehen und auch wenn die Götter manchmal lange brauchen, bis sie eingreifen, ihre Gefolgsleute werden eine solche Gefahr rasch bannen.«
»Das macht das Kind zu einem Märtyrer, und damit zu einem mächtigen Werkzeug, wenn es richtig eingesetzt wird.« Zhia klang selbst nicht überzeugt davon, aber nachdem Scree in Flammen aufgegangen war, hatte sie sich vorgenommen, dass niemand sie mehr überlisten solle.
»Durch ein Martyrium könnten die vier Viertel des Stadtstaates geeint werden, womit jedoch noch nichts erreicht wäre. Die Runde Stadt ist nichts weiter als ein wichtiges Handelszentrum. Es gibt hier keine Macht und es würde eines Jahrzehnts der Führung durch einen überlegenen Geist bedürfen, um das zu ändern. Du hättest mich überzeugt, wenn das Kind von König Emin oder Ritter-Kardinal Certinse an Kindes statt angenommen worden wäre, aber hier ist damit nichts zu gewinnen.«
Zhia nickte. »Wollen wir hoffen, dass wir Zeit genug haben, um alles Nötige herauszufinden, bevor wir uns für eine Seite entscheiden müssen. Kastan Styrax wird sich ganz sicher bald
auf den Weg hierher machen.« Sie wandte sich wieder der Frau zu, wechselte in den hiesigen Dialekt und fragte: »Harys, wie kommt man in die Nähe der Herzogin?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Da kann ich Euch nicht helfen, edle Dame. Auf diese Kreise habe ich keinen Einfluss.«
»Wer dann?«
»Seit der Herzog getötet wurde, gibt es da nicht mehr viele. Die Herzogin hat Acht Türme seit einer Woche nicht mehr verlassen. Einige Kleriker fingen schon an, sich gegen die Maßnahmen zu wehren, die sie ergriffen hat, um sie unter Kontrolle zu bringen. Man erzählt sich, dass Krieger-Priester des
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