Sturmauge
machte einen Schritt auf die aufgeräumten Regale an der gegenüberliegenden Wand zu. Immer wieder sprang er weiter vor, folgte einem Geruch, den Mihn nicht wahrnahm, bis er die Ecke erreicht hatte.
Der Dämon schnüffelte angestrengt, packte dann das letzte Regal und schleuderte die Akten und Bücher auf den Boden, knurrte und schlug noch etwas beiseite – eine Holzplatte, vermutete Mihn, so wie es klang, als es auf den Boden fiel – und starrte die Wand an.
Mihn sah nicht, was er betrachtete, aber es schien den Dämon nicht zu beunruhigen – ebenso wenig wie eine gedämpfte Stimme, die aus dem Schlafzimmer des Hohepriesters klang. Mit einem rollenden, schweren Geräusch, das ein Kichern sein mochte, wischte sich der Dämon die Klaue an der Wand ab, dann fasste er in eine Nische und zog ein dickes Buch hervor. Im mattgrünen, magischen Licht, das den Dämon umspielte, leuchteten die Ecken des Buches auf.
Vermutlich Silber. Das ist ein Grimoire – aber was fängt ein Priester
mit einem Grimoire an? Nur Magier sammeln doch Sprüche in einem Buch.
Der Dämon drehte sich um und wog das große Buch mit einem anerkennenden Grunzen in einer Hand. Mihn erkannte, dass er zufrieden war, auch wenn er seinen Mund nicht sehen konnte, ja nicht einmal wusste, ob er unter dieser seltsamen, zu großen Nase überhaupt einen Mund besaß. Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte.
Aus dem Schlafzimmer klangen nun weitere Geräusche und der Dämon hob seinen tödlichen rechten Arm. Er sah auf und entdeckte Mihn, der noch immer auf dem Balken kauerte. Die Nasenlappen richteten sich auf.
»Er, der beschützt werden muss«, sagte der Dämon mit einer Stimme, als bestünde seine Kehle aus Sandpapier. »Er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Ich rieche Macht an dir. Du gehörst jemandem, der größer ist als ich.« Er hob das Buch. »Die Schriften des Cordein Malich. Das Verzeichnis seiner Schulden und der Geruch seiner Seele. Sag dem anderen, dass ich zufrieden bin.«
Im nächsten Augenblick flog die Schlafzimmertür auf und Hohepriester Bern kam wie ein Geist in einem flatternden Nachthemd hindurch, den Spazierstab drohend erhoben. Der Dämon hob beinahe nachlässig die Hand und stach mit den Stacheln an seiner Hand zu, um den Hohepriester aufzuspießen. Bern keuchte schmerzerfüllt auf, als die Stacheln seine Brust durchdrangen und am Rücken wieder austraten, wobei sie Blut auf die Wand spritzten. Der Dämon lachte erneut und wendete sich Mihn zu. Zwei seiner Augen leuchteten im dunklen Raum auf.
»Der andere verlangte nach Chaos, um deine Flucht zu decken.« Er steckte einen Finger in das Blut, das aus den Wunden des Hohepriesters floss und leckte ihn dann ab. »Es wird mir eine Freude sein, Chaos anzurichten.«
18
Er sah der Morgendämmerung zu, den schwachen Lichtstrahlen, die durch die Wolken fanden. Etwas in ihm scheute vor dem Licht zurück, aber er verdrängte es, wie er es seit Jahren schon an jedem Morgen tat. Die schwache Wintersonne war immer noch stark genug, um anfangs in den Augen zu stechen, weil er die ganze Nacht über das Dunkel genossen hatte.
Trotz des Regens und der dicken Steinmauern konnte er sie von seinem Standort aus riechen, ihren Atem hören und das heiße Pochen in ihren Adern geradezu empfinden. Manchmal war der Geruch auch zu aufdringlich, verhinderte den Schlaf, und in solchen Nächten drückte er sich für gewöhnlich in eine dunkle Ecke, um sich von allen anderen fernzuhalten. Sogar die ungemütlichen Winternächte voll von Regen und eisigem Wind konnten ihm nichts anhaben. Diese Unannehmlichkeiten verblassten vor dem Heißhunger in seinem Inneren zu Nichtigkeiten.
Die Dämmerung brachte Stimmen, Bewegungen und Tierrufe mit sich, Hundegebell und Hahnenkrähen. Er rang sich ein Lächeln ab. Wieder eine Nacht überlebt. Eine weitere Nacht, in der er die schlafende Stadt beobachtet und darauf gewartet hatte, dass das Leben in die Straßen zurückkehrte. Eine weitere Nacht der Untätigkeit. Das Sonnenlicht kroch über seine Haut und vertrieb
diese Gefühle, verscheuchte die Dunkelheit zurück in die Abgründe seiner Seele.
Mit jedem Jahr wurde es schwieriger, aber in letzter Zeit war es besonders schlimm. Er spürte eine Träne auf der Wange, die er vorsichtig mit einem Finger wegwischte – und den kleinen Wassertropfen dann eingehend betrachtete, bevor er ihn sich auf die Zunge fallen ließ. Er spuckte sofort aus und war beschämt.
Er schürzte die Lippen. Die Dämmerung war
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