Sturmauge
ihrem Hals war unverändert zu sehen und Antil glaubte, dass ihre Stimme für immer vergangen war. Aber der Rest ihres Körpers schien trotz der Knochenbrüche und inneren Verletzungen unnatürlich schnell verheilt.
Legana krächzte heiser und suchte nach der Tafel, die er ihr besorgt hatte. Sie schrieb drei Worte darauf: Es ist Zeit.
»Gebt Lonai noch etwas Zeit, wir haben keine Eile«, antwortete Antil.
– Wir gehen jetzt , schrieb sie und wollte aus dem Bett steigen.
Unwillkürlich versuchte Antil ihr zu helfen, aber sie schob ihn beiseite. Sie war so groß wie er und schlanker gebaut, aber dennoch stärker, auch wenn sie immer noch unsicher auf den Beinen war. Antil hatte ihr Haar, das graue und kupferfarbene Strähnen aufwies, ungeschickt gekürzt und es ihr aus dem Gesicht gebunden, aber kaum dass sie stand, zog sie die Bänder heraus, so dass es ihr Gesicht verdeckte und ihre beunruhigenden Augen etwas verbarg. Ihr Gesicht war verheilt und bis auf das Zeichen an ihrer Kehle wirkte ihre Haut makellos, ohne Schnitte oder blaue Flecken.
»Warum jetzt?«, fragte er und untermalte es mit einem übertriebenen Schulterzucken.
– Zwielicht.
Antil wiederholte seine Geste. »Du hast Angst davor, dass dich die Götter jagen könnten?«
Um seine Worte zu verstehen, legte sie den Kopf auf die Seite, dann verstand sie, was er sagen wollte und schüttelte den Kopf. Danach wischte sie das Wort mit dem Ärmel von der Tafel.
– Ablenkung. Ich spüre es, wie ein sich bewegendes Spinnennetz.
Antil dachte darüber nach. Spinnennetz? Ihr Götter, was für eine Spinne muss durch Hale wandeln, dass sie sie spüren kann?
Es hatte offensichtlich keinen Sinn, mit ihr zu streiten. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, und so ging er vor ihr her, um ihr die Tür zu öffnen. Er reichte ihr eine Hand, die sie zögernd ergriff. Offensichtlich gefiel es ihr nicht, von einer anderen Person abhängig zu sein. Sie riss die leuchtend grünen Augen auf und schlurfte, die Hand an der Wand, über den Holzboden, bis sie die Treppe erreicht hatte.
Die Robe, die sie von Antil erhalten hatte, war um ein Stück gekürzt, damit sie nicht über den Saum stolperte. Antil wurde oft zu denen gerufen, die das Haus nicht mehr verlassen konnten. Mit etwas Glück würde darum niemand einen Priester und eine Novizin Shotirs belästigen.
Bis sie den Raum des Schreins erreichten, begegneten sie niemandem. Dort wartete der dicke Lonei und spähte immer wieder nervös durch die gelbe Tür.
»Vater, da sind Soldaten«, zischte er, als er sie bemerkte.
Antil bedeutete Legana, stehen zu bleiben und eilte an Loneis Seite. »Was tun sie?«
Lonei schüttelte ängstlich den Kopf. Antil trat an ihm vorbei auf die Straße und bemerkte, dass sie nicht allein waren. Mönche, Priester, Laienprediger – alle starrten die Straße entlang auf eine Kompanie Rubinturmwachen, die in Zweierreihen über die Kreuzung marschierten. Hinter ihnen folgten weniger ordentlich Soldaten in dem Grau-Weiß der Byoranischen Wache, die in Hale Dienst tat.
Antil bemerkte, dass viele Leute vor den Soldaten flohen. Es war nicht allein dem Tempel Shotirs zugefallen, sich um die Opfer zu kümmern, die zu beklagen waren, weil die Soldaten gewaltsam die Herrschaft wieder an sich gerissen hatten. Und nun beruhigte sich die Lage nicht, im Gegenteil, sie wurde immer gewalttätiger – und was in der letzten Nacht geschehen war, war das Schlimmste, was Antil jemals in Friedenszeiten erlebt hatte. Einige der Byoranischen Wachen hatten ihre Wut am Tempel Etesias ausgelassen und waren dann zu den Häusern von Triena und Kantay weitergezogen. Sie hatten Priester und Novizen beiderlei Geschlechts auf den Platz zwischen den verbundenen Tempeln geschleift und nacheinander vergewaltigt, wobei sie jeden abschlachteten, der sich wehrte. Alle Eunuchen waren erschlagen worden. Ein Einziger hatte das Glück gehabt – wenn
man es so nennen konnte – zu überleben; er wurde mit den Eingeweiden von Etesias Hohepriesterin an eine der Säulen des Tempels gefesselt. Die Soldaten hatten ihre Brüste abgeschnitten und dem Eunuchen in den Mund gestopft – und ihm jedes Mal einen Finger abgeschnitten, wenn er sie ausgespuckt hatte. Antil hatte der grausigen Erzählung schweigend gelauscht, nur seine fahle Haut hatte sein Entsetzen verraten.
Und jetzt sah es so aus, als würde sich das wiederholen.
»Wo gehen sie hin, Vater?«, fragte Lonei mit bebender Stimme.
»Das weiß ich nicht«, antwortete
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