Sturmauge
den Schädel einzuschlagen. Blut lief aus der Wunde, doch Doranei vermutete, dass der Mann das Stechen jetzt noch gar nicht spürte. Seine Augen waren vor Angst weit aufgerissen, was Doranei zeigte, dass er ein ganz gewöhnlicher Mann war, gewiss nicht an die brutale Welt gewöhnt, in der sich Doranei bewegte. Das waren gute Neuigkeiten. Vielleicht glaubte er, dies hier überleben zu können, wenn Doranei mit seinen Antworten zufrieden war.
»Ihr habt Nummer zweiundvierzig beobachtet, mit den Türklopfern in Adlerkopfform?«
Wieder stöhnte er.
»Warum?«
»Weiß nicht«, lautete die heisere Antwort. Der Mann war jetzt kreidebleich, und seine Wangenmuskeln zuckten vor Anstrengung, den Kopf hochzuhalten. »Hat uns keiner gesagt.«
»Lass seine linke Hand los«, sagte er zu Sebe, und ihr Gefangener schnappte erleichtert nach Luft, als er sich mit einem Ellbogen abstützen konnte. »Wenn Leute wie wir da hineingehen, solltest du dann die Rubinturmwache benachrichtigen?«
»Die Byoranische Wache, eine Sondereinheit. Wenn irgendjemand reingeht, schicken wir eine Nachricht zum Turm.«
»Wer hat euch den Befehl dazu erteilt?«
»Mein Hauptmann, aber die Nachricht sollte an den neuen Sergeanten im Turm gehen.«
»Name?«
»Kayel, ein großer Mistkerl, Ausländer, so heißt es, ich habe ihn aber nie getroffen.«
»Ein großer Mistkerl?«, fragte sich Doranei laut und tauschte einen Blick mit Sebe, der offensichtlich das Gleiche dachte. Es gab nicht viele Leute, die wussten, wer in einer Stadt der Spion Narkangs war und wie man ihn unter Beobachtung stellen konnte, aber der verräterische Goldjunge der Einheit war sicher einer von ihnen.
»Wie lautet der volle Name dieses Sergeanten? Wie sieht er aus?«
»Hener Kayel, glaube ich. Ich habe ihn nie selbst getroffen, aber man erzählt sich, er prahle damit, dass er von einem Löwen verstümmelt worden sei – es hat ihm das halbe Ohr abgebissen, während er das Tier getötet hat. Sie haben alle Angst vor ihm. Der tötet Menschen wie andere Leute Fliegen, heißt es.«
Doranei schwieg einen Moment, dachte an den Tag zurück, an dem Coran, König Emins Weißaugen-Leibwache, in den Palast getaumelt kam, das Knie zerschlagen und Ilumenes Dolch noch zwischen den Rippen steckend. Coran hatte Ilumene selbst nur einen Kratzer beibringen können. Ilumene hatte sich dagegen stärker verletzt, nämlich das Stück seines Ohrs abgeschnitten, auf dem sich das Zeichen der Bruderschaft befunden hatte. Er
hatte es König Emin zwei Tage später in den Palast geschickt, um ihn wissen zu lassen, dass Ilumene noch lebte.
»Dann gibt es keinen Zweifel«, sagte Doranei schließlich und steckte den Dolch weg, während er sich erhob. »Wir müssen Verstärkung holen.«
Er trat über die Beine des Mannes, ohne hinabzusehen, und ging auf dem gleichen Weg wieder hinaus, auf dem sie gekommen waren. Nach einer kurzen, ruckartigen Bewegung folgte ihm Sebe.
Legana erwachte vor Schreck, als ihr Bett zu zittern begann. Sie sah sich um, während die Erinnerung an ein Geräusch in ihren Ohren nachhallte, dann erkannte sie, dass es von der schweren Vordertür unter ihrem Zimmer stammte, die zugeworfen worden war. Es war dunkel, und unter dem Vorhang zeigte sich kein Licht. Also musste sie wohl bis tief in die Nacht hinein geschlafen haben. Sie tastete nach dem Stuhl neben ihrem Bett und fand ihre Kleidung. Dann zog sie sich eilig an und wickelte zum Schluss auch noch den langen Schal aus kupferfarbener Seide um sich, den die Frau des Weinhändlers ihr geschenkt hatte. Legana war nicht in der Lage, die Farbe zu würdigen, aber als sie ihn angelegt hatte, waren alle im Raum verstummt, und das schien Erklärung genug zu sein.
Sie nahm ihre Tafel und die Kreide auf und öffnete dann die Tür, um auf den dunklen Flur zu treten. Dazu brauchte sie den Gehstock, den der Händler ihr geliehen hatte, kaum noch. Er war alt gewesen und schwarz angelaufen – sein Vater hatte ihn dreißig Jahre lang benutzt – aber als sie ihn dann berührt hatte, war der Belag verschwunden und hatte den wunderhübschen silbernen Knauf offenbart.
Legana hielt inne, um sich die Tafel unter den Arm zu klemmen und ihren Augen Zeit zu geben, sich an das Licht zu gewöhnen, das die Treppe hinaufschien. Sie waren noch immer empfindlich
und die Farben wirkten grau, aber sie sah wieder weitgehend scharf und erkannte den Flur fast so gut, wie jeder andere auch. Es war Gewohnheit, dass sie auf dem Weg zur Treppe nach unten mit
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