Sturmauge
den Fingern an der Wand entlangstrich.
Sie fühlte sich noch immer verletztlich, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie genesen war. Sie hörte schlechter, und ihre Stimme war gebrochen, aber sie war jetzt deutlich stärker als ein Mann und auch erheblich zäher. Daran, dass sie manchmal das Gleichgewicht verlor und sie sich lieber langsam und vorsichtig bewegte, würde sich nichts mehr ändern, und sie musste lernen, damit zu leben.
Das Gebäude hatte drei Teile. Die Geschäfte wurden in der großen Halle an der Vorderseite abgehalten. Sie wirkte eher wie ein Lagerraum, weniger wie ein Ladengeschäft. Legana wandte sich zuerst dorthin, denn sie wusste, dass Lell Derager, der Weinhändler, der als Farlans Spion in Byora tätig war, nach Einbruch der Dunkelheit keine Geschäfte mehr machte. Sicher waren es diese Narren aus Narkang gewesen, die bei ihrer Rückkehr die Tür zugeschlagen hatten.
Als sie am Fuß der Treppe ankam, fand sie Derager und seine Frau Gavai im Eingang zu seinem vollgestopften Arbeitszimmer stehend. Der dicke Mann wandte sich um, als er ihre Schritte hörte, und breitete die Arme zu einer Willkommensgeste aus, weil er wusste, dass Legana Schwierigkeiten damit hatte, den Ausdruck von Gesichtern zu erkennen.
»Legana, hat Euch das Schläfchen wohl getan?«, fragte er mit donnernder Stimme.
Sie nickte, machte sich aber nicht die Mühe etwas aufzuschreiben. Lell störte so etwas nicht. Er war so höflich, dass Legana schon misstrauisch wurde, und tat alles selbst, was mit ihr zu tun hatte, statt einen Diener zu rufen. Er war nicht alt – weniger als vierzig Sommer – aber seine Kotletten und sein Bart erschwerten
es, sein Alter zu schätzen. Er wirkte deutlich fröhlicher als seine Frau, die zehn Jahre älter war, aber sie waren beide bedachte, freundliche Gastgeber – und Leute, die man sich nach Leganas Meinung niemals als Spione vorstellen konnte, was wohl auch der Grund für Flüsterers Vorgänger Grund gewesen war, sie auszuwählen.
»Eure Freunde sind zurückgekehrt«, berichtete ihr Gavai. »Sie ziehen sich gerade etwas Trockenes an. Warten wir im Esszimmer auf sie.« Sie bot Legana ihren Arm. Nach kurzem Zögern ergriff sie ihn und ließ sich in den zweitgrößten Raum des Hauses führen. Sie wusste zwar nicht aus eigener Erfahrung, wie man als Tochter behandelt wurde, vermutete aber, dass es wohl so ähnlich wie dies hier sein musste.
Ein unverhältnismäßig großer Tisch aus Mooreichenholz bestimmte den Raum, aber obwohl er so groß war, gab es um ihn herum in jeder Richtung drei Schritt freien Raum. Ein Kandelaber hing über dem Tisch am dicken Hauptbalken der niedrigen Decke. Zur Linken standen unterschiedliche Stühle in einer wie zufällig wirkenden Aufstellung vor dem Kamin. Gavai führte Legana zu einem, der mit dem Rücken zu den flackernden Flammen stand und setzte sich neben die ehemalige Meuchlerin aus Farlan. Lell folgte ihnen und scheuchte seinen jugendlichen Sohn in die Küche, wobei er etwas sagte, das Legana nicht verstand.
Als Lell wiederkam, hielt er volle Weingläser in den Händen, und Doranei und Sebe, die sich mittlerweile zu ihnen gesellt hatten, nahmen das Getränk dankbar entgegen. Doranei stürzte den Wein in einem Zug herunter, was Legana nicht sonderlich wunderte, bis Sebe es ebenso hielt.
Lell nahm den Weinkrug aus Messing auf, um nachzuschenken, und Legana schrieb auf ihre Tafel: – Schlechte Neuigkeiten?
Sie glaubte zu erkennen, dass Doranei das Gesicht verzog, und sein grimmiger Tonfall bestätigte ihre Vermutung.
»Wie es aussieht, hast du Recht gehabt«, sagte er zögernd. »Azaers Gefolgsleute sind hier.«
»Seid Ihr sicher?«, fragte Lell, antwortete sich aber gleich darauf selbst: »Natürlich seid Ihr das. Niemand trägt eine solche Miene zur Schau, wenn er nicht sicher ist. Wie habt Ihr es herausgefunden ?«
»Unser Spion in der Stadt wurde von Männern beobachtet, die Meldung an den Rubinturm erstatten sollten«, antwortete Sebe an Doraneis Stelle, der bereits den nächsten Becher leerte. »Wir halten unser Netzwerk geheimer als Ihr, darum wird es eigentlich nie zufällig entdeckt. Wir haben einen der Beobachter befragt. Sie sollten einem neuen Sergeanten in der Rubinturmwache alle Besucher melden.«
– Herzogin und Azaer? , fragte Legana
Doranei schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, aber die Beschreibung des Sergeanten reichte aus, um ihn zu erkennen. Wenn er hier ist, dann ist vermutlich auch der Rest von Azaers
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