Sturmauge
brechen. Zuerst wurde meine Frau krank und starb, dann blieb meinem Bruder das Herz stehen, als ein schwarzer Hund seinen Weg kreuzte.« Er schluchzte atemlos. »Euer Gnaden, gesegnete Herrin Byoras, ich flehe Euch um Fürsprach an, um Hilfe …«
»Genug«, blaffte die Herzogin. »Ich kann nicht …« Die Worte verloren sich, als Ruhen vom Thron herunterglitt. »Ruhen, mein Lieber, setzt dich wieder her«, sagte sie.
Der kleine Junge schüttelte ernst den Kopf. Als sie den Mund erneut öffnete, hob er die Hand, und die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Unter den gebannten Blicken aller Anwesenden strich ihr Ruhen mit den kleinen Fingern durch das sandfarbene Haar. Dann drehte er sich um, und Luerce sah, dass der Junge ein einzelnes Haar zwischen den Fingern hielt. Ruhen kam mit einem Ausdruck größter Konzentration zu Luerce und schien nicht zu bemerken, dass die Menge hinter ihm erstaunt nach Luft schnappte.
Ehrfürchtig blieb Luerce, wo er war, so als ließe ihn der Blick
aus Ruhens Augen, die nicht blinzelten, erstarren. »Kleiner Prinz«, flüsterte Luerce, und dabei erfüllte seine Stimme den stillen Raum. »Ich bin wohl ein Sünder, aber diesen Fluch habe ich nicht verdient, das schwöre ich.«
Die Herzogin saß kerzengerade und reglos auf ihrem Thron, umklammerte die Lehnen so krampfhaft, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Neben ihr zeigte Ilumene eine ähnliche Besorgnis.
Ruhen beachtete das alles nicht, sondern blickte weiterhin Luerce an. Ohne darüber nachzudenken, hob Luerce die Hand, und das Kind blieb davor stehen, musterte die schmutzigen Fingernägel und die wunde Haut. Schließlich band Ruhen das Haar mit schmerzlich langsamen Bewegungen um Luerces Zeigefinger.
»Geh nach Hause«, sagte er mit heller, kindlicher Stimme, die gar nicht so klang wie jene Stimme, mit der Azaer zu ihm gesprochen hatte, aber die gleiche, berauschende Wirkung hatte.
Er hielt still, bis Ruhen den Blick abwandte und zur Herzogin zurückstapfte. Dann erhob sich Luerce mühsam, taumelte kurz, um sich nun denen hinter sich zuzuwenden, die ihn beobachteten. Sie standen beeindruckt und schweigend da, bis er auf sie zutaumelte und sie ihm Platz machten, damit er durch die halboffene Tür in das graue Tageslicht gelangen konnte.
»Die Berührung der Unschuldigen«, sagte der Magier leise. »Es heißt doch, dass die Reinen Sünde und Dämonen vertreiben können. Warum dann nicht auch Flüche?«
»Er flehte um Fürsprache«, keuchte jemand in der Menge.
»Und Fürsprache hat er erhalten«, sagte die Herzogin und sah auf das Kind neben sich hinab. Ruhen lächelte zu ihr auf, und sie spürte, wie die Wärme sie umschmiegte.
Venn regte sich, wurde langsam wach. Sein Kopf fühlte sich schwer an, die Brust zu eng. Der Geruch von Weihrauch kitzelte seine Nase, so dass er mit einem Zucken und Husten endgültig
erwachte. Er drehte den Kopf und spürte das schmutzige, schweißnasse Kissen an seinem Ohr.
So kann ich nicht weitermachen. Ich sterbe hier , erkannte er und griff nach dem Wasserbecher neben seinem Bett.
Jemand drückte ihm das Gefäß in die Hand und half ihm dabei, es an die Lippen zu heben. Er blinzelte, und langsam klärte sich sein Blick. Er sah ein Gesicht vor sich, nicht das einer Priesterin, sondern das einer jungen Harlekin-Frau, die bald ins Land hinausziehen würde. Er erinnerte sich an sie. Oft hatte sie zu seinen Füßen gesessen, in diesen letzten … Wochen? Monaten? Er war nicht mehr sicher. Auch ihr Name wollte ihm nicht mehr einfallen, aber das war ja in letzter Zeit bei vielen Dingen so. Dieser Zustand hielt nach dem Aufwachen manchmal bis zu einer Stunde an. Früher hatte er einmal einen sehr geübten Körper besessen, aber seit Dohle in seinem Schatten lebte, hatte er sich damit abgefunden, ein alter, zerbrechlicher Mann zu sein.
»Wir wollten uns verabschieden«, sagte sie sanft, während er trank.
»Ihr wurdet nun gesegnet und zieht ins Land hinaus?«, krächzte er mit wunder Kehle.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Meister. Wir ziehen aus, das Kind zu suchen, den Unschuldigen, den Prinz aus Euren Geschichten.«
Jetzt habe ich euch , erkannte Venn. Und gerade noch rechtzeitig. Ihr wählt euren König, und wenn ihr ihn findet, werdet ihr die Masken ablegen und unter seinem Banner marschieren.
»Ihr glaubt, das Land brauche Fürbitte?«
Sie nickte eindringlich.
»Dann sollte ich mitkommen«, sagte Venn und versuchte sich aufzurichten.
Sie half ihm mit besorgtem Gesicht auf.
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