Sturmauge
erhob
sich eine halbmondförmige Felsformation, die zwei Mann hoch und mehr als zwanzig Schritt lang war.
»Der gescheiterte Streit«, sagte Bernstein. »Ein Denkmal für Kebren. Den gebogenen Fels nennt man den Drachen, er soll ein Schutzgeist der Bibliothek sein.«
Ihre Wache schnaubte verärgert. »Es heißt doch nicht: Der gescheiterte Streit . Vielmehr ist es das Grab eines unbekannten Fysthrall, der den Tod Leitahs, der Göttin der Weisheit miterlebte. Das Standbild wurde zu ihren Ehren und nicht zu Ehren des Schutzgottes der Fysthrall errichtet.«
»Dann ist es ein Denkmal für den Sieg der Gewalt über den Verstand«, sagte Nai. Er ging um den ovalen Granitblock herum, suchte nach einer Fuge, fand aber keine. Im Gegensatz zu den Häusern war das Denkmal direkt aus dem dunklen Stein des Schwarzzahn gemeißelt worden. Die Oberfläche hatte man geglättet und mit unzähligen Schriftzeilen versehen, aber der Dialekt war zu alt, als dass sie beide ihn hätten verstehen können.
»Liegt er darunter?«, fragte Nai und betrachtete den festgestampften Boden.
»In den Fels eingeschlossen«, antwortete der Litse und verbarg seine Verärgerung nicht. »Behandelt es mit Würde, denn diese Bibliothek wurde aufgrund seiner Schriften errichtet. Er hat meinen Vorfahren die Aufgabe übertragen, die Erinnerung an Leitah am Leben zu halten.«
»In den Fels eingeschlossen?«
Nai musterte das Denkmal und versuchte zu ergründen, wie man das geschafft hatte.
Er ist nicht so wie Isherin Purn , erkannte Bernstein. Für ihn geht es bei der Nekromantie nicht um Macht. Er ist nur so neugierig, dass er nicht weiß, wann er aufhören sollte.
»Dann muss man es in der Stadt gefertigt haben«, schloss Nai. Er streckte die Arme aus und zog sich am Rand des Denkmals
hoch, um auf die Oberseite zu sehen. Das Weißauge schrie wütend auf, aber Nai achtete gar nicht darauf.
Das Weißauge löste einen Speer von seiner Hüfte und war drauf und dran, ihn zu werfen. Aber Bernstein fiel ihm in den Arm.
»Nai, komm sofort da runter«, befahlt Bernstein.
Das Weißauge versuchte sich seinem Griff zu entwinden, doch um fliegen zu können, musste er schlank und von so schmalem Wuchs wie ein Falke sein. Also hatte Bernstein den Gewichtsvorteil auf seiner Seite. Der Litse zischte verärgert und griff nach seinem Dolch. Bernstein stieß ihn so von sich weg, dass der Junge nach hinten taumelte und seine Flügel ausbreiten musste, um das Gleichgewicht wiederzufinden.
»Hast du den unbekannten Soldaten erkannt?«, fragte jemand von der Treppe her. Lord Styrax stand dort oben vor einer gemischten Gruppe.
Bernstein sank auf ein Knie.
»Nun? Ich sehe ein Gesicht, das in die Oberseite eingeschnitten scheint. Ist es jemand, den du kennst?« Bernstein hörte das Lachen in der Stimme seines Lords. Noch nie hatten die Menin der Versuchung, die kleinlichen, humorlosen Litse zu verspotten, widerstehen können. Es erfreute Bernstein, dass auch sein Lord diesem Drang nicht entging. Es machte den sonst so distanzierten und undurchschaubaren Mann etwas menschlicher.
»Er kommt mir bekannt vor, mein Lord«, antwortete Nai fröhlich, und Bernstein verzog über den offensichtlichen Mangel an Respekt des Nekromanten das Gesicht. »Ich würde nicht sagen, dass ich mit dem Mann schon getrunken habe, aber die Augen erinnern mich an jemanden.«
Die Wache schrie erneut wütend auf, aber diesmal suchte er am Kopfende der Treppe nach Befehlen. Neben Lord Styrax stand ein weiteres Litse-Weißauge. Es war größer als Kiallas und
hatte goldene Verzierungen auf der prächtigen Rüstung. Er betrachtete das Geschehen mit gefurchter Stirn, aber bisher hatte er sich noch zurückgehalten. Als er nun Anstalten machte, die Treppe hinabzugehen, sagte Lord Styrax ruhig: »Bei Fuß, Gesh.«
Bernstein hatte seinen Lord lange nicht mehr ohne Rüstung gesehen. Sogar für ein Weißauge mit der Stärke eines Kastan Styrax wäre eine volle Panzerung in diesem Tal anstrengend zu tragen, darum hatte er etwas angelegt, das besser zu einem Adligen passte: eine teure, cremefarbene Tunika mit roten Verzierungen und rote Reiterstiefel aus Leder, die an dem Weißauge ebenso unpassend wirkten wie die Diamant- und Rubinringe, die an seiner linken Hand funkelten. General Gaur und Kohrad gingen hinter ihm. Das junge Weißauge war weniger prächtig in einen schwarzen Waffenrock gekleidet. Der feindselige Blick, mit dem Kohrad die Begleiter seines Vaters musterte, machte deutlich, dass er sich nicht
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