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Sturmauge

Sturmauge

Titel: Sturmauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Lloyd
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weißem Stein, die in der kraterartigen Kluft verteilt lagen.
    Auf allen Seiten der etwa eine halbe Meile durchmessenden Senke erhoben sich steile Klippen – ein Tal in der Form einer verbeulten Schale, die in den umgebenden Hängen ruhte. Der wie ein schwarzer Drachenzahn wirkende einsame Gipfel des Schwarzzahn erhob sich am Rand der unebenen Schlucht und blickte auf sie herab. Bernstein hörte einen Wasserfall und sah hinter dem größten Gebäude einen kleinen Fluss aufblitzen. Es war ein sechsseitiger Bau mit einer von Grünspan bedeckten Kupferkuppel. An drei Seiten ragten Flügel hervor und gaben ihm den Anschein eines verstümmelten Insekts.
    Alle Gebäude unterschieden sich erheblich voneinander. Das nächststehende war niedrig und weit gehalten, und die Hälfte
des zweiten Stocks war Wind und Wetter offen ausgesetzt. Weiter hinten erhob sich stufenförmig der Aufstieg zum großen, doppelten Torbogen, durch den man in die Runde Stadt nach Ismess hinabgelangte. Bernstein sah Dutzende Gestalten in Weiß, alle blond, aber die meisten ohne Flügel – reinblütige Litse. Er erinnerte sich an das, was man ihm im Vorfeld schon gesagt hatte: Normalerweise trugen nur die Weißaugen Waffen, aber offensichtlich hatte die Anwesenheit Lord Styrax’ und seiner Leute sie in Unruhe versetzt, denn alle erwachsenen Männer, die er sah, waren bewaffnet. Sie machten allerdings nicht den Eindruck, als wären sie daran gewöhnt.
    »Erstaunlich«, sagte Nai, der neben ihm erschien. Er streckte die Hand aus, die Finger gespreizt, und bewegte sie durch die Luft, als würde er sie in einen Fluss tauchen. »Nichts, gar nichts.«
    »Sieht gut aus, finde ich«, sagte Kayel und grinste Ruhen dabei bösartig an. »Ich nehme es.«
    »Gar nichts?«, wiederholte Bernstein, ohne auf Kayels Einwurf zu achten. Erst da begriff er, was Nai meinte. »Oh, natürlich.«
    Die Bibliothek nutzte auf unbekannte Weise die Tatsache, dass es neben Orten mit sehr hoher magischer Energie auch solche gab, an denen sie fast völlig fehlte. So ein Ort war die Bibliothek der Jahreszeiten. Magie funktionierte hier einfach nicht. Nai würde hier in der Luft, die ihn umgab, keine Energie finden, gleichgültig, wie sehr er sich auch anstrengte.
    »So hatte ich es mir nicht vorgestellt«, sagte er schaudernd. »Die Luft ist so ausgedörrt, dass sie wie in einem Sandsturm schmeckt. Es fühlt sich an, als sei man mit einem Mal nicht mehr in der Lage, die Farbe Blau zu sehen.« Nai wirkte sehr verunsichert und bemerkte nicht einmal den scharfen Blick der Herzogin.
    »Nun, gewöhn dich dran«, drängte Bernstein und riss sich von
dem beeindruckenden Anblick los. »Wir haben etwas zu erledigen. Kiallas, könnt Ihr mir sagen, wo ich Lord Styrax finde?«
    »Ich soll euch alle zum Palast der Gelehrten bringen, damit ihr euch frischmachen könnt«, sagte Kiallas und zeigte auf das hohe Gebäude, das sich an die Klippen schmiegte. Es war sieben oder acht Stockwerke hoch und jedes wies einen Balkon auf, der sich über die gesamte Breite erstreckte. Das Weißauge sah Bernstein mit einer Mischung aus Abscheu und leichter Geringschätzung an.
    »Ich brauche keine Begleitung«, sagte Bernstein und versuchte sich von der Hochnäsigkeit des Weißauges nicht verärgern zu lassen. »Weist mir nur den Weg.«
    »Besucher müssen stets eine Eskorte haben.«
    »Gut, dann ruft jemanden«, sagte Bernstein knapp. Er wies auf das größte Gebäude mit der Kupferkuppel hin. Es hieß das Faeren-Haus, und dort befand sich die zur Bibliothek gehörige Sammlung von Grimoires und Abhandlungen über Magie. Lord Styrax würde sich am ehesten dort aufhalten und herumstöbern. »Wir gehen da hin.«
    Bernstein stieg mit Nai im Schlepptau die Treppe hinab. Mit einem Flattern näherte sich ein weiteres geflügeltes Weißauge, der Rüstung nach von geringerem Rang. Bernstein war erleichtert, die Herzogin und ihren Leibwächter hinter sich lassen zu können. Ihre Stimmen verloren sich rasch im Wind. Er hatte den Drang, sich wie ein Hund zu schütteln, nun, da er dem engen Tunnel und der unangenehmen Gesellschaft entkommen war. Er konnte nicht entscheiden, was ihn eher gestört hatte, der bösartige Kayel oder die Schatten in Ruhens Augen. Aber jetzt, da er beide losgeworden war, schmeckte die frische Luft umso süßer.
    »Was ist das?«, fragte Nai, als sie das große Gebäude erreichten. Er wies auf ein dunkles Standbild hin, das am Fuß der Treppe stand, die zu einem Säulengang hinaufführte. Dahinter

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