Sturmbote
einher. Wovor hast du Angst, mein Lord?
Isak blickte beiseite, denn darauf wusste er keine Antwort.
23
Die Morgendämmerung war noch nicht mehr als ein kaltes Leuchten zwischen den zurückweichenden Wolken, als vier Gruppen am Kopf der riesigen, uralten Steintreppe erschienen, die zur Tempelebene Thotels hinabführte. Die nächtliche Sintflut hatte den Boden getränkt und überall um sie herum erklang das Rauschen und Tropfen des Wassers, das aus Felsenrissen in der Klippe lief und den See am Südende speiste, aus dem die Stadt den Großteil ihres Wasser bezog.
Die beiden ältesten Männer umarmten sich und tauschten einen fragenden Blick, doch die übrigen Männer achteten darauf, die Aufmerksamkeit der anderen nicht zu erregen, während sie sich an der Spitze der Treppe versammelten und darauf warteten, dass der westliche Horizont sich erhellte und das Licht die Wolken vertrieb.
General Dev atmete den Geruch der feuchten Ebene ein. Er erinnerte sich an seinen letzten Besuch hier, in der Nacht, als Lord Chalat sie im Stich gelassen hatte – oder ermordet worden war, da war er sich nicht ganz sicher. Dev hatte man in dieser Nacht den Kopf eingeschlagen, was ihn ans Bett gefesselt hatte. Darum war er nicht in der Lage gewesen, sich gegen Lord Charrs Irrsinn zu stemmen, der für den Sieg der Menin gesorgt hatte.
Ob er Charr hätte aufhalten können, sei dahingestellt, aber als Kommandant der Zehntausend wäre er der Einzige gewesen, der eine Chance gehabt hätte. Das gewaltige Schuldgefühl, das er seitdem verspürte, wurde von seiner jetzigen Zusammenarbeit mit den Menin nur noch verstärkt, und es würde weiter an ihm nagen, bis er einen Ausweg aus dieser unfassbaren Lage gefunden hatte.
Das zunehmende Licht entriss der Dunkelheit eine ockerfarbene Landschaft mit Streifen aus rostrotem Lehm und Sand. Auf den Klippen am Rande des Ebene wuchsen hier und da seltsame Pflanzen, die sich an kleine Vorsprünge klammerten. Fledermäuse und fliegende Echsen schwirrten auf dem Weg zu ihren Höhlen durch die Luft. Im Zentrum der Ebene stand der gigantische pyramidenförmige Tempel der Sonne, wo ihr Beschützer, der Gott Tsatach, den Gebeten von Tausenden lauschte, die sich um die ewige Flamme versammelt hatten. Die Kupferspitze war so sauber und glänzend wie an jenem Tag, an dem der Tempel erbaut wurde.
Von der rechten Seite erklang ein Geräusch. Der General wandte sich um und sah einen Mann, der vor dem Tempel des Nartis stand, einem von drei Tempeln, die nicht auf der Ebene lagen. Dev spähte zwischen den Säulen hindurch und sah, dass er leer war.
Seltsam , dachte er. Sollten die Priester des Nartis jetzt nicht das letzte Ritual der Nacht durchführen?
Der Mann kam auf sie zu und verneigte sich respektvoll, was keiner der Anwesenden erwiderte. General Dev musterte seine Begleiter. Jede Gruppe bestand aus einem Tachrenn, Kommandanten von eintausend Axtträgern, und einigen Mitgliedern ihres Kommandostabes. Man hatte sie ebenso wie General Dev angewiesen, nur ihre treuesten Berater und keine Wachen mitzubringen. Es zeugte eher von Respekt als von einem Hinterhalt, dass
die Kommandanten der Legionen, die die Zehntausend formten – oder zumindest die, die nach dem umfassenden Sieg der Menin noch übrig waren – ohne große Zeremonie und ohne Geheimhaltung zusammengerufen worden waren.
Der Mann, ein Menin-Diener, so nahm er an, trug eine graue Robe mit einem Strick als Gürtel und eine weite graue Hose. Er strahlte die Männer der acht Gruppen an. »Guten Morgen, General Dev und Tachrenn der Zehntausend. Mein Lord erwartet euch zu einer kleinen Menin-Tradition unten auf der Tempelebene.«
»Sehen wir aus, als gäben wir etwas um Menin-Traditionen?«, presste Tachrenn Lecha hervor, ein großer Chetse, dessen einer Arm noch immer wegen einer im Kampf erlittenen Speerwunde in einer Schlaufe hing.
»Lecha«, grollte General Dev, der verhindern wollte, dass der junge Tachrenn Schwierigkeiten machte. »Es ist ein bisschen früh für Unhöflichkeiten.«
»Unhöflichkeiten? General, du erinnerst dich daran, dass sie unsere Hauptstadt besetzt haben? Oder hast du das wegen deines Tierfreundes vergessen?«, fragte Lecha und verbarg seine Abscheu über die Kollaboration seines Kommandanten mit dem Feind nicht. Tachrenn Lecha hatte den Großteil des Widerstandes in der Stadt organisiert. Das hatte General Gaur Dev bei ihrem letzten Treffen mitgeteilt, und er hatte klargestellt, dass sie langsam die Geduld mit dem Mann
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