Sturmherz
mein Gott, Süße! Ihr habt es getan!“
Sie stieß ein Kreischen aus, das mein Trommelfell stark strapazierte. Wodurch hatte ich mich verraten? Sah man es meinem Blick an? Meinem Grinsen? Oder stand es auf meiner Stirn geschrieben?
„Wie war es?“, quiekte Alice. „Erzähl mir alles.“
„Was soll ich erzählen? Es war fantastisch. Es war wunderschön. Es war … na ja, perfekt.“
„Jesus.“ Sie rang beide Arme gen Himmel. „Wenn er so gut im Bett ist, wie er aussieht, hast du dir einen griechischen Halbgott geangelt.“
„Ich weiß.“ Gab es in der griechischen Mythologie eine Entsprechung für Selkies? Mein Magen flatterte. Im Hintergrund sah ich, wie eines der Mädchen Louan einen Teller mit Brot und Würstchen reichte. Dankbar nahm er ihn entgegen und ignorierte die starrenden Blicke mit stoischer Gelassenheit. Immer wieder sah er zum Vollmond hinauf, der in melodramatischer Schönheit zwischen den versilberten Wolkenfetzen leuchtete.
„Das wird eine tolle Nacht.“ Alice legte einen Arm um meine Schultern und lotste mich zum Feuer zurück. Decken, Isomatten, Schlafsäcke, Jungen und Mädchen bildeten nach wie vor ein buntes Chaos. Aus einem Ghettoblaster dröhnte Thousand Suns von Linkin Park. Ich sollte loslassen. Meine Sorgen vergessen und diese Nacht genießen. Sommer, Freiheit und Liebe.
Die Jugend , sagte Dad immer, geht unglaublich schnell vorbei. Denke daran und koste sie aus. Bald wirst du dich nach ihr zurücksehnen .
„Ich finde es klasse, dass du ihn mitgebracht hast“, raunte Alice mir verschwörerisch ins Ohr. „Auch wenn Stephen und Paul vor Eifersucht schon ganz grün im Gesicht sind. Sieh mal, so zahm habe ich sie noch nie erlebt. Wären sie Hunde, würden sie winseln und den Schwanz einkneifen. Dein Liebster scheint das geborene Alphamännchen zu sein.“
Besagte Jungen, einer so unspektakulär wie der andere, saßen Louan gegenüber und frönten dem Urinstinkt der unterlegenen Männchen. Sie zogen die Köpfe zwischen die Schultern, schrumpften in ihrer Haut, wichen seinem Blick aus und senkten ihre Stimmen. Faszinierend. Auf gewisse Weise hatte der Mensch sein Tiersein niemals abgelegt. Während ich mir einen Pappteller mit gegrilltem Gemüse und Würstchen belegte, analysierte ich Stephens und Pauls Verhalten. Die Unsicherheit der Jungen stieg parallel zu Louans zunehmender Entspannung. Bald ignorierte mein Selkie nicht mehr die musternden Blicke, er schien darin zu baden. Ohne jede Affektiertheit, vielmehr mit einer natürlichen, in sich selbst ruhenden Selbstverständlichkeit, die seine Wirkung auf die Mädchen verstärkte. Wie er lachte, hin und wieder sein Haar zurückstrich, den Kopf in den Nacken legte und stolz in die Runde blickte, war phänomenal. Er strahlte eine solch unterschwellige Überlegenheit aus, dass ich nicht mehr wusste, wo Faszination und Beklommenheit aufhörten oder begannen.
Wer ist er wirklich?
Diese Frage stellte ich mir wieder und wieder. Da war etwas an ihm, das ich nicht definieren konnte. Etwas, das ich heute zum ersten Mal sah, und es hatte nichts mit dem sanftmütigen Jungen zu tun, in den ich vernarrt war. Sein Blick schien noch wilder und geheimnisvoller zu sein. Seine Augen noch schwärzer, seine Bewegungen lauernder. Beim letzten Vollmond war etwas Ähnliches über ihn gekommen, aber es war schwächer gewesen. Viel schwächer. Wie ein sanftes Glimmen im Vergleich zu einem lodernden Flächenbrand.
Während der Abend fortschritt, stellte man ihm genau die Fragen, für die wir geübt hatten.
Woher kommst du? Was treibt dich hierher?
Wie habt ihr euch kennengelernt?
Wie lange bleibst du und wohin gehst du?
Louans Antworten waren tadellos, obwohl ihnen bald eine gewisse Ungeduld anhaftete, als wäre es ihm lieber gewesen, endlich ignoriert zu werden.
Paul und Stephen verfielen nach einer Weile gänzlich in Schweigen. Die gesamte Stimmung wurde seltsam. Es fehlte das Ausgelassene, Alberne. Stattdessen legte sich über jedes Gesicht eine gewisse Entrücktheit. Verstohlene Blicke ruhten auf Louan. Unsichere Floskeln buhlten um seine Aufmerksamkeit. Sah er jemanden direkt an, schien derjenige unter seinem Blick dahin zu schmelzen.
Es begann, gespenstisch zu werden.
Die Wärme des Feuers kroch über meine Haut. Lass los , beschwor ich mich. Denke nicht so viel nach. Er würde uns niemals schaden .
Aber was, wenn es unbeabsichtigt geschah?
Geschmiegt an Louan, sog ich den Augenblick in mich auf und versuchte, zu entspannen. Blicke
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