Sturmherz
überraschte mich nicht, dass der Vollmond einen solch großen Einfluss auf ihn ausübte, denn das Meer war eng mit dem Gestirn verbunden und damit auch mit ihm.
„Es wird schon gehen“, murmelte Louan mit einem schiefen Grinsen. „Ich glaube nicht, dass es noch mal so schlimm wird wie letztes Mal.“
„Du wirst nicht vor aller Augen über mich herfallen?“
„Mal sehen“, schnurrte er nur.
Ich seufzte und legte meinen Arm um seine Taille.
Der Wind war kalt und frisch, in ihm lag der Duft der Torffeuer, die jemand am Strand angezündet hatte. Früher war dieser Geruch alltäglich auf den Inseln gewesen, heute nahm man ihn immer seltener wahr. Je weiter wir hinausfuhren, umso schwächer wurde das rauchige Aroma, bis der Wind es ganz auslöschte.
MacMuffin brummte mit tiefer Stimme ein Seemannslied, während er das Netz ausbrachte.
„Ob Sturm uns bedroht hoch vom Norden,
ob Heimweh im Herzen uns brennt,
wir sind Kameraden geworden, auch wenn es zur Hölle geht.
Matrosen die wissen zu sterben,
wie immer das Schicksal auch spielt,
und geht unsere Trommel in Scherben,
dann singt uns der Nordwind ein Lied.“
„Du willst heute Abend wirklich dorthin?“, hakte ich nach. „Wir müssen nicht. Ehrlich. Es ist allein deine Entscheidung. Wir können auch … na, du weißt schon. Im Bett bleiben.“
Der Gedanke an eine Vollmond-Nacht, die wir in vollen Zügen auskosten würden, rang mit egoistischem Stolz. Den Mädchen meiner Klasse würde der Unterkiefer in Kniehöhe hängen, wenn sie Louan an meiner Seite sahen. Nannten sie mich doch gerne „Knochengestell“ und trauten mir keinerlei verführerisches Talent zu.
„Lass uns erst zur Party gehen“, beharrte Louan. „Danach haben wir immer noch alle Zeit der Welt.“
Du hast alle Zeit der Welt , dachte ich bei mir. Aber ich bin ein Mensch. Meine Lebensspanne ist begrenzt.
Louan schien meinen Gedanken zu spüren. Er lächelte, nahm mein Haar zu einem Zopf zusammen und hauchte einen federleichten Kuss auf meinen Nacken. „Du machst mich verrückt, Mari. Eure Märchen erzählen immer nur davon, dass wir euch die Seelen rauben. Aber vielleicht ist es genau umgekehrt.“
Ich kicherte und schmiegte mich an ihn, überwältigt von einer plötzlichen Melancholie. Vielleicht lag es an MacMuffins Stimme, die durch den Wind drang. Sie bewegte sich auf und ab wie die Wellen, die mit dem Kutter spielten.
„Auf einem Seemannsgrab, da blühen keine Rosen.
Auf einem Seemannsgrab, da blüht keine Blume.
Der einzige Gruß, das sind die weißen Möwen
und eine Träne, die ein Mädchen weint.“
Inzwischen war das Netz ausgebracht. Jetzt kam der Moment, in dem mein Selkie etwas tat, was ich nie ganz begreifen würde.
Er ließ mich los, beugte sich über die Reling und ließ eine Art Gesang aus seiner Kehle dringen. Aber es waren keine Worte, wie Menschen sie zum Singen nutzten, vielmehr ein Summen und Raunen, ähnlich dem geheimnisvollen Flüstern der Gezeiten. Es vibrierte in meinem Körper und tastete sich durch meine Seele, so betörend wie seine Finger, die leicht wie ein Vogelflügel meinen Hals liebkosten, während er in das tiefe blaue Wasser blickte.
„Du hast mich angelogen, Louan“, flüsterte ich, als sein Lied endete. „Du sagtest, du könntest sie nicht herbeisingen. Aber gerade hast du es getan.“
Er warf mir einen neckischen Seitenblick zu, während der Wind durch sein Haar strich. Ein Sonnenstrahl fing sich in der silbernen Muschel, die er sich in der Stadt gekauft und mit einem Lederband um seinen Hals gebunden hatte.
Oh ja, ich lebte hier und jetzt meine Träume und blickte in eine fantastische Welt, die vor allen anderen Menschen verborgen blieb.
Es würde Louans Schauspieleinlage nur glaubwürdiger machen, wenn er Dinge tat, wie sie für normalsterbliche Jugendliche üblich waren. Ruth und Aaron beobachteten uns immer noch, daran zweifelte ich nicht.
Aber auf der Party Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, konnte schnell zum Problem werden, ganz gleich, wie oft wir Louans normalsterbliche Lebensgeschichte geübt hatten. Mir wäre es lieber gewesen, dieser Feier fern zu bleiben, doch ich spürte Louans Vorfreude, und sie ihm zu nehmen, brachte ich nicht über mich. Wer wusste schon, wie lange sein Aufenthalt in der Menschenwelt noch dauern würde?
„Junge!“ MacMuffins laute Stimme ließ mich zusammenzucken. „Seht euch das an. Es ist voll. Keine halbe Stunde, und es ist voll. Ihr beiden seid wahre Glücksbringer.“
Während die
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